Schwarzgoldene Augen

Vorbemerkung von Rolf Löchel

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Gemeinhin erwartet man, dass anlässlich eines Dezennienwechsels Heils- und Unheilsverkünder Konjunktur haben - und von einem Millenniumswechsel zumal. Doch weit gefehlt. Sieht man einmal von dem nicht recht in Schwung gekommenen Hype um das erwartete Computerchaos ab, sah man dem Ende des vergangenen Jahrtausends mit größter Gelassenheit entgegen. Weder hetzten panische Apokalyptiker durch die Straßen noch verkündeten Nihilisten lauthals das herbeigesehnte Ende der Welt. Ebenso wenig wurden und werden für das zwar neue, jedoch alles andere als jugendlich und frisch wirkende Jahrhundert paradiesische Zustände vorausgesagt.

Utopien scheinen mit dem jämmerlichen Ende des "realexistierenden Sozialismus" ein für alle mal desavouiert. Tatsächlich hatten beide allerdings kaum je etwas miteinander zu tun. Hielten doch die sozialistischen Praktiker des 20. Jahrhunderts ebenso wenig von Utopien wie ihre theoretischen Vorväter und -denker des vorangegangenen 19., die schon damals für die 'unheilige Familie' der Utopisten nur Hohn und Spott übrig gehabt und lieber auf die "Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" gesetzt hatten. Dennoch, mit den Staaten des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe schien auch das emphatische Denken abgewirtschaftet zu haben. Geblieben ist der Machbarkeitswahn instrumenteller Vernunft, der sich in hochfliegenden Träumen von Gentechnikern manifestiert, die indessen mindestens ebenso viele Ängste wie Hoffnungen wecken, oder in den blutleeren Präsentationen fortschrittsgläubiger Technokraten auf der Expo 2000, die weder Ängste noch Hoffnungen evozieren, sondern die Menschen einfach kalt lassen.

Doch meldete sich Anfang des Jahres mit Johannes Agnoli ein Verfechter utopischen Denkens alter Provenienz zu Wort. In der Wochenzeitung "Die Zeit" proklamierte er mit apodiktischem Gestus: "Die Orientierung an der Utopie ist der einzig reale Ausweg aus der Inhumanität, in der sich die Weltgesellschaft befindet." Aber im weiten Rund des Feuilletons erklang zu Gunsten des utopischen Denkens nur diese eine Stimme.

Als wir begannen, einen Schwerpunkt zu Utopie ins Auge zu fassen, fürchteten wir daher, unser antizyklisches Vorhaben werde möglicherweise mangels Neuerscheinungen zum Thema scheitern. Doch der Buchmarkt stellt unverdrossen eine Vielzahl an philosophischen, politischen und literarischen Büchern zur Verfügung, die sich mit utopischem Denken befassen, ohne allerdings ungebrochen konkrete Utopien zu propagieren.

Unser Schwerpunkt wird mit der Rezension eines Buches eröffnet, das sich nicht mit Utopie im engeren Sinne befasst, sondern das Verständnis und den Begriff von Zukunft thematisiert. Ihr folgen die Besprechung einer diskursiven Einführungen in die literarische Utopie-Produktion und einer philosophischen Zeitschrift zum "Wagnis Utopie". In drei thematischen Unterschwerpunkten werden sodann theoretische und literarische Publikationen zu (1) politischen und Staatsutopien besprochen, die nach wie vor in der Diskussion sind; zu (2) feministischen und gender-Utopien, die seit geraumer Zeit auf dem Gebiet literarischer Utopie-Produktion federführend sind, und schließlich zu (3) verständlicherweise stark vertretenen negativen Warn-Utopien, den sogenannten Dystopien, und den prekären Träumerein der Gentechniker. Dass unsere Aufteilung vom Genre selbst immer wieder durchbrochen wird, zeigen die vorgestellten Titel von Oktavia Butler, Marge Piercy und Ursula K. Le Guin.

Wie der Buchmarkt und auch unser Schwerpunkt zeigen, ist die utopische Hoffnung zwar umstrittener denn je, aber darum nicht tot. Natürlich, möchte man sagen, ist sie nicht tot, denn neben dem vielfach konstatierten metaphysischen Bedürfnis des Menschen gibt es offenbar auch ein utopisches Verlangen. Ihm und seiner Wahrheit verlieh Ingeborg Bachmann in "Malina" poetischen Ausdruck: "Ein Tag wird kommen, an dem die Menschen schwarzgoldene Augen haben, sie werden die Schönheit sehen, sie werden vom Schmutz befreit sein und von jeder Last, sie werden sich in die Lüfte heben, sie werden unter die Wasser gehen, sie werden ihre Schwielen und ihre Nöte vergessen. Ein Tag wird kommen, sie werden frei sein, es werden alle Menschen frei sein, auch von der Freiheit, die sei gemeint haben. Es wird eine größere Freiheit sein, sie wird über die Maßen sein, sie wird für ein ganzes Leben sein..." Hier wird keine Theorie entwickelt, keine Politik betrieben und für kein Programm geworben, sondern einem Glauben, einem Bedürfnis Sprache verliehen. Einem gleichwohl skeptischen Bedürfnis, das aber gehegt sein will, weil man sonst nicht leben kann, oder zumindest nicht schreiben, wie Bachmann in ihrem letzten Interview erklärte: "Ich glaube wirklich an etwas, und das nenne ich 'ein Tag wird kommen'. Und eines Tages wird es kommen. Ja, wahrscheinlich wird es nicht kommen, denn man hat es uns ja immer zerstört, seit so vielen tausend Jahren hat man es immer zerstört. Es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran. Denn wenn ich nicht mehr daran glauben kann, kann ich auch nicht mehr schreiben."