Die Präsenz des Krieges im Frieden

Zum mentalitätsgeschichtlichen Phänomen der Brutalisierung der politischen Kultur in der Weimarer Republik

Von Gerd KrumeichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerd Krumeich

In der heutigen internationalen Forschung zum Ersten Weltkrieg ist eine Behauptung grundlegend: dieser Krieg habe als erster wirklicher Weltkrieg sehr weitreichende Auswirkungen nicht allein im ökonomischen und politischen Bereich, sondern auch im Rahmen der Mentalitäten und kulturellen Formen gehabt. Wenn sich mit dem vierjährigen Krieg zweifellos die innergesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Beziehungen in allen beteiligten Ländern weitreichend umgestalteten, so bleibt zu fragen, ob und gegebenenfalls inwieweit die "Weltkriegserfahrung" hierfür maßgeblich war.

Ungeachtet der unbestreitbaren Tatsache, dass es ein irgendwie einmütiges "Kriegserlebnis" weder auf soldatischer noch auf ziviler Seite gegeben hat, wurde der gerade erlebte Krieg bereits für die Zeitgenossen zum entscheidenden Kriterium künftiger Politik, Gesellschaft und Kultur sowie auch individueller Lebensgestaltung. In extremer, gleichwohl kondensierter, Form lässt sich dieses Phänomen bei Adolf Hitler beobachten, der in den 1920er-Jahren immer wieder betonte, dass es seine eigentümliche "Kriegserfahrung" sei, die ihn als Prototyp des "unbekannten Soldaten" dazu legitimiere, das Unrecht von Versailles zu beseitigen, Deutschland und Europa zu revolutionieren und das "jüdische Unheil" aus der Welt zu schaffen. Hitler war ein Extremfall, aber die gesellschaftlichen und mentalen Umwälzungen waren tatsächlich in Deutschland ganz besonders groß. Die Niederlage, der Kriegsschuldvorwurf, der Druck durch Reparationen und militärische Nachkriegsbesetzung führten dazu, dass sich die erforderliche Bewältigung des Kriegstraumas in ganz besonderen Formen von Verdrängung und gleichzeitigem politischem Aktivismus manifestierte. Vielleicht hat Walter Benjamin mit seiner sarkastischen Bemerkung aus dem Jahre 1929 Recht, dass nicht der Krieg selbst das traumatische Ereignis gewesen sei, sondern die Tatsache, dass der Krieg verloren wurde.

Diese besonderen deutschen Verhältnisse sind wohl auch der Grund, warum die internationale Forschung der letzten Jahrzehnte sich überproportional mit ihnen beschäftigt hat, gemessen etwa an der Erforschung der Nachkriegsentwicklung in Frankreich und England. Neben der Untersuchung von strukturellen Schwächen einer Demokratie in Deutschland ist schon sehr früh auf das Problem der "Brutalisierung" des politischen Verkehrs in den Jahren nach 1918 hingewiesen worden. Genannt sei hier insbesondere die bahnbrechende Arbeit von Kurt Sontheimer über das antidemokratische Denken in der Weimarer Republik aus dem Jahr 1962. Sontheimer hat unter anderem auf die Stereotypisierung und den floskelhaften Gebrauch der Rede vom "Kriegserlebnis des Weltkrieges" auf Seiten der Rechten während der 1920er-Jahre hingewiesen. Kernstück dieses Diskurses war der Frontsoldaten-Mythos, durch den erst die Überhöhung des Weltkriegserlebnisses zu einem regelrechten Glaubenskrieg für die Erneuerung Deutschlands stattfand. Einer der Hauptideologen des soldatischen Nationalismus, Franz Schauwecker, hat diesen Zusammenhang folgendermaßen ausgedrückt: "Das Schlachtfeld wirkt zunächst in die Seele zurück, und der Krieg geht in den Köpfen weiter, in dem Bewußtsein einer neuen verpflichtenden Erkenntnis."

In Schauweckers mythomanischer Beschwörung des Kriegserlebnisses leitet das Millionenheer der Gefallenen den Rachefeldzug der Überlebenden gegen die Zivilisten der verachteten Republik an: "[...] das deutsche Heer des Krieges, das aufsteht, das herannaht [...]. Kampf dröhnt in der schweren Wucht ihrer Schritte, Sieg wühlt in den Falten der Fahnen und Standarten über ihnen. Sie kommen heran, unaufhaltsam und ungeheuer wie das Wandern des Meeres. Eine Stimme ist bei ihnen [...] voll knirschenden Trotzes gegen die Welt [...]." Rache und Drohung ist der Inhalt der "Literatur des soldatischen Nationalismus" von Schauwecker über Werner Beumelburg bis hin zu Ernst Jünger. So entstand das Bild vom Typus des stahlharten Frontkämpfers, der "ohne Mitleid und grenzenlos selbstsicher mit der Rute des polemischen Wortes auf die Zeit einschlägt, [der] vom Krieg nicht lassen [kann], sondern [...] die Fortsetzung des Krieges als einen nationalen Auftrag proklamieren" muss, wie es bei Sontheimer heißt. Bei den aktivistischen Ideologen des "Fronterlebnisses" herrschte die Auffassung vor, wie sie Schauwecker schon 1919 formuliert hatte: "Wir mußten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen." Interessant ist allerdings, dass der kämpferische Gestus des soldatischen Nationalismus zu Teilen erst im Laufe der Jahre antirepublikanisch wurde - und nicht von vorneherein gegen die Republik gerichtet war. Tatsächlich hat die nationalrevolutionäre Kriegserlebnisideologie erst mit der wachsenden Enttäuschung über die politische und soziale Entwicklung ihre Breitenwirkung entfaltet und sich ab Mitte der 1920er-Jahre als Antithese zum bestehenden politischen System ausformuliert. Dies kommt besonders in Ernst Jüngers extravagant-extremistischer "Positionsbestimmung" aus dem Jahr 1929 zum Vorschein: "Weil wir die echten, wahren und unerbittlichen Feinde des Bürgers sind, macht uns seine Verwesung Spaß. Wir aber sind keine Bürger, wir sind Söhne von Kriegen und Bürgerkriegen."

Symptomatisch für diese Entwicklung ist die jahrelange Auseinandersetzung um den vorgeblichen "Dolchstoß", das heißt um die Behauptung, dass das siegreiche deutsche Heer nur durch das Versagen beziwhungsweise die Sabotage der "Heimat" schließlich die Waffen doch habe strecken müssen: Der Versailler "Schandfrieden" galt also als eine Folge des Versagens der Heimat. Wenn man im Hinblick auf die Dolchstoß-Propaganda feststellen kann, dass diese erst durch die politischen Gegebenheiten der Weimarer Republik, nicht aber als direkte Fortsetzung des Kriegserlebnisses ihre Struktur gewann, so gilt Ähnliches für die nationalistische Rhetorik und Gewalt im Zusammenhang mit dem Ruhrkampf.

Die Überführung der zweifellos "brutalen" Ideologie des soldatischen Nationalismus in die These einer insgesamt feststellbaren "Brutalisierung" der politischen Kultur im Deutschland der 1920er-Jahre ist vor allem von George Mosse zum Thema gemacht worden. Soldatische Kriegskameradschaft sei einem Verschwörertum gewichen, für das politischer Mord nichts anderes gewesen sei als die Fortsetzung des Krieges mit nahezu denselben Mitteln. Die in der Nachkriegszeit weiterwirkende Kriegspropaganda habe dazu geführt, so Mosse, dass aus der extremen Feindschaft im Krieg die Entmenschlichung des politischen Gegners im Frieden geworden sei. Mosses Thesen sind in der Geschichtswissenschaft stark rezipiert worden und zweifellos ist es ihm gelungen, einen plausiblen argumentativen Bogen zwischen Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften zu schlagen. Allerdings ist auch die Frage gestellt worden, ob diese Ableitungen und Analogien nicht allzu einfach und selbstverständlich gedacht wurden. So hat sich etwa Richard Bessel gegen den recht holzschnittartigen Charakter der Deduktionen von Mosse gewandt und sich bemüht, den gesamten Demobilisierungsprozess und die Heimkehr der Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg zu entdramatisieren. Vor allem mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass nur ein verschwindend geringer Teil der 1918 demobilisierten sechs bis sieben Millionen Kriegsheimkehrer sich im soldatischen Nationalismus neu organisierte, während die überwiegende Mehrheit der Kriegsteilnehmer schlicht ins Zivilleben zurückkehrte. Auch Reinhart Koselleck hat in einer wegweisenden Arbeit ("Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein", 1995) davor gewarnt, die "Kriegserfahrung" zu einseitig und zu direkt als Ausgangspunkt der "Brutalisierungs"-These zu wählen. Die Kriegserfahrung sei in sprachlichen Mustern tradiert, auch in generationell differenter Perzeption auf ganz verschiedenartige Weise "sortiert" worden. Insbesondere habe die Erinnerung an den Krieg selbst entscheidende Prägungen durch die Ereignisse der Nachkriegszeit erfahren. Auch sei zu beachten, dass die "Kriegserfahrung" zweifellos an "Bewußtseinsprägungen der Vorkriegszeit" sich zumindest angelehnt habe. Insgesamt habe es also vielschichtige Faktoren der Bewusstseinsbildung gegeben und es sei ungemein schwierig "für eine Mentalitätsgeschichte jene Schwelle festzulegen, die nun einmal mit dem Eintritt der Waffenruhe endgültig überschritten worden ist."

In der deutschen historischen Forschung ist, den Anregungen Kosellecks weitgehend folgend, das Grundproblem einer Brutalisierung der politischen Kultur in der Weimarer Republik in letzter Zeit methodisch verfeinert und sachlich differenziert weitergeführt worden.

Die jüngere Mentalitäten- und Symbolforschung für die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg hat bereits in klaren Umrissen sichtbar werden lassen, dass eine Beschäftigung mit der fraglos vorhandenen "Verrohung" soldatischer Gruppen nicht ausreichen kann, den stark variierenden Geist der Nachkriegszeit und die unterschiedlichen Formen der Präsenz des Krieges im Frieden zu erfassen.

So ist es methodisch zwingend, die fundamentale Untersuchung von Antoine Prost ("Les ancient combattants", 1977) über die Organisation, Politik und Mentalitäten der französischen Frontsoldaten nach 1918 tatsächlich vergleichend heranzuziehen. Auch die zentral das Thema der Kriegsbrutalität thematisierenden innovativen Arbeiten, die im Rahmen des Forschungszentrums des Historial de la Grande Guerre in Peronne (Somme) entstanden sind, harren noch einer vergleichenden Inanspruchnahme.

Nicht zu vergessen in der Auseinandersetzung mit der Zwischenkriegszeit sind die Dimensionen der internationalen Konflikt-Szenerie, wie sie sich aus dem Weltkrieg heraus auch nach dem Friedensschluss in weiten Teilen Deutschlands - und vor allem Osteuropas - entwickelte. Es herrschte weiter Krieg, das heißt: neue Kriege entwickelten sich aus dem alten. Der Krieg war nirgendwo gänzlich aus den Köpfen getilgt und die "Kriegskultur" wurde folglich in die Periode des Friedens überführt. Hierzu trug auch der strukturell defizitäre Charakter - im Hinblick auf eine Friedensordnung mit Einschluss der Besiegten - des internationalen Systems bei. Somit war auch die deutsche "Besonderheit" anders in die internationale Situation eingebettet als dies gemeinhin beachtet wird. Eine wichtige These in diesem Zusammenhang ist, dass sich die Republik erst konstituiert habe im allgemeinen Protest gegen Versailles und in der Verlängerung des "Kriegserlebnisses"; die innere Zerrissenheit der deutschen Gesellschaft sei auch als Folge der Polarisierung in der Frage des "Ablehnens oder Annehmens" des Friedensvertrages entstanden.

Die Auswirkungen des Weltkriegs in Deutschland, die hiesigen politischen und kulturellen Entwicklungen beziwhungsweise Verwerfungen in der Zwischenkriegszeit lassen es angebracht erscheinen, nach vielen Jahrzehnten eher toposförmiger Bestimmungen des Charakters des "Kriegserlebnisses" zurückzugehen auf die unabweisbare Kontingenz des Soldat-Seins und die geläufigen biografischen und politischen Konstruktionen holistischer Art auf ihren Realitätshintergrund hin zu befragen. So muss in einer mentalitäts- und kulturhistorisch orientierten modernen Geschichte der soldatischen Verbände deren konkreter Umgang mit der Kriegserinnerung als Faktor ihrer "Vergesellschaftung", also ihrer Einbindung in die Nachkriegsgesellschaft deutlich werden. Nicht das "Kriegserlebnis" hat die Innenpolitik bestimmt, sondern diese hat die Topoi dessen, was "Kriegserlebnis" sein sollte, erst wirklich ausformuliert. In der Hitler'schen Konstruktion politischer Militanz als Folge seiner Kriegsteilnahme wird der Zusammenhang exemplarisch deutlich.

Eine der großen Schwierigkeiten einer kriegskritischen Durchdringung der Öffentlichkeit war in der Tatsache begründet, dass die Schreckensbilder des Krieges nur langsam und erst allmählich in die breite Öffentlichkeit einsickerten und wie sich realistische Kriegsdarstellungen in jeder Form in Deutschland überhaupt erst nach 1918 entwickeln konnten. Vielleicht liegt es ja auch an dieser "Verspätung", dass authentische Trauerverarbeitung nicht mit der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg zusammenfiel, wie sie insbesondere im Anti-Kriegs-Jahr 1924 präsent war. Kunst wurde auf die Seite politischer Polemik und Abrechnung mit den "Verantwortlichen" des Weltkrieges gezogen, und büßte in dieser Konstellation ihre Fähigkeit weitgehend ein, allgemein akzeptierte Formen der Katastrophenbewältigung und Trauerverarbeitung zu generieren - beispielhaft die Unfähigkeit der Deutschen, gemeinsam des "unbekannten Soldaten" zu gedenken. So blieb der Erste Weltkrieg in Deutschland eine traumatische Erfahrung, die Hass und Verbitterung auslöste in einem Maße, wie sie von den Zeitgenossen noch lange erinnert, von der Kulturgeschichtsschreibung aber bislang noch nicht wirklich verstanden worden ist. Die Künstler und Schriftsteller der Nachkriegszeit boten jeder für sich und manchmal auch als Gruppe Antworten an, meist in Form von Provokationen. Was mit DADA schon im Krieg begonnen hatte, setzte sich in den Nachkriegszeiten auf zum Teil gruppenmäßig kohärente, zum Teil individuelle Weise fort. Wenn wir heute diese Provokationen - von Otto Dix bis hin zu Ernst Friedrichs "Antikriegs-Museum" in Berlin ansehen, so erscheinen sie uns als authentische Formen der Bewältigung, denn sie sind nicht nur "Zeitzeugnisse", sondern sie haben ihre Zeit überdauert.