Ein Pole erfindet Russland

Mariusz Wilk veröffentlicht in seinem Buch "Das Haus am Onegasee" neue Tagebuchnotizen aus dem russischen Norden

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mit dem Verstand ist Russland nicht zu begreifen, an Russland kann man nur glauben", hat der russische Dichter Fjodor Tjuttschew 1866 in einem bis heute viel bemühten und durchaus kontrovers interpretierten Gedicht festgehalten. Der polnische Journalist und Schriftsteller Mariusz Wilk würde vielleicht einwenden, man könne Russland auch erfahren: Russland erleben, indem man es bereist.

Seit den frühen 1990er-Jahren erkundet Mariusz Wilk den russischen Norden, den er zwischen dem Ladogasee und den Solowezki-Inseln im Weißen Meer, zwischen Karelien an der Grenze zu Finnland und dem Ural im Osten verortet. Wilk, geboren 1955 in Wroclaw, war seit Ende der 1970er-Jahre in Polen für die oppositionelle Gewerkschaft Solidarnosc aktiv. Während des Kriegsrechts zeitweise inhaftiert, arbeitete er nach der politischen Wende zunächst als Korrespondent in Berlin, ab 1991 dann in Moskau. Seitdem lebt er vorwiegend in Russland. Wie Wilk selbst zugibt, fühlt er sich immer mehr als ein russischer Schriftsteller, der auf Polnisch schreibt. Vor fünf Jahren hat Wilks Debüt "Schwarzes Eis" über die Solowezki-Inseln hierzulande eine sehr wohlwollende Aufnahme gefunden. Der Autor ist unterdessen nicht untätig geblieben: Er hat seine Reisenotizen in Tagebuchform fortgesetzt und in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. Schließlich sind daraus drei weitere Bücher entstanden, von denen Martin Pollack nun wieder eines ins Deutsche übertragen hat: 2003 haben Wilk und seine Frau Natalia ein verfallenes Haus am Onegasee gekauft und renoviert. Von den gut zweieinhalb darin verbrachten Jahren erzählt "Das Haus am Onegasee".

Das Rezept für dieses Buch ist im Grunde genommen dasselbe geblieben wie schon in "Schwarzes Eis". Das "Aneignen" und Instandstellen des Hauses am See, Naturschilderungen, philosophische, religiöse und soziale Betrachtungen sowie Begegnungen mit Menschen: Dies sind die hauptsächlichen Ingredienzien des Buches. Ergänzt werden sie um eine diachrone Perspektive, die historische Tiefenschichten und Hintergründe, aber auch kulturelle und kulinarische Traditionen aufdeckt. Die Randlage Kareliens und der Onega-Region, wo sich in der Vergangenheit russische und finnougrische Stämme begegnet sind, erweist sich dabei als besonders fruchtbar für Sprachkünstler: Die altrussischen Heldenepen haben hier besser überdauert - vielleicht gerade deshalb, weil sie in diesem Grenzland als nationales Gedächtnis fungieren mussten. Ausführliche Bemerkungen widmet Wilk dem Dichter und Sänger der Onega-Region Nikolaj Kljujew (1884-1937) sowie den Skomorochi. Letztere waren ein eigentümliches Phänomen: Eine Art herumziehende Troubadoure und Possenreißer, die der offiziellen Kirche nicht ganz geheuer waren und entsprechend verfolgt wurden. Wilk findet einen späten Abglanz der Skomorochi noch heute in einer lokalen Rockgruppe.

Diese Mischung von Themen überzeugt nach wie vor. Wilk versteht es, den Leser für sich einzunehmen; seine Reiseberichte können immer wieder mit überraschenden Einsichten und Informationen aufwarten. Der Tagebuchcharakter der Aufzeichnungen bringt eine Unmittelbarkeit des Erlebens und Reflektierens mit sich und führt zu einem lebhaften Stil. Auch der repetitive Charakter der Notate - manche Themen kehren periodisch wieder und werden weitergesponnen - tut diesem Eindruck keinen Abbruch.

Es lohnt aber, einen Blick auf die inneren Entwicklungen zu werfen, die es in Wilks Reisenotizen über die Jahre hinweg gleichwohl zu registrieren gibt. Seit seinen ersten beiden Büchern ("Woloka" (2006) ist bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden) zeichneten sich nämlich in Wilks Texten ein paar Tendenzen ab, die sich nun weiter verstärken.

Zunächst kann man mitverfolgen, wie Wilks Faszination für eine nomadenhafte Lebensweise mit der Zeit wächst. Weg, Pfad und Fährte werden zu Schlüsselwörtern seines Werks. Das Unterwegssein, das Wandern und Reisen verbindet sich dabei aufs engste mit dem Schreiben, das Wilk ebenfalls als Suchbewegung versteht. Über die Jahre entwickelt Wilk eine eigentliche Philosophie des Wegs, ein Konzept, das seine Inspiration übrigens zu einem nicht geringen Teil auch aus östlichen Denktraditionen, etwa dem Taoismus, schöpft. Es verwundert daher nicht, dass Wilk sein Haus am Onegasee - in das er soviel Arbeit gesteckt hat - schon bald verkauft und seine Sesshaftigkeit wieder aufgibt. Sein viertes und neustes, bislang erst auf polnisch verfügbares Buch zeigt ihn als Nomaden auf den Spuren der Rentiere und der Saami auf der Kola-Halbinsel.

Seit dem Debüt lässt sich in Wilks Texten aber auch eine gewisse (neo)konservative Haltung vermehrt vernehmen. Sie äußert sich in Form zivilisationskritischer Passagen, etwa im Hinblick auf den Fernseher oder die gesellschaftlich-politische Entwicklung "in Europa" - wozu Wilk selbstverständlich auch Polen rechnet. Bei einem Kurzbesuch in Warschau fallen ihm die Beschleunigung des Lebens, die neue Kleidermode und die Handy-Manie negativ auf. Zurück in "seinem" Russland, atmet er erleichtert auf. Wilks Sehnsucht nach vormodernen Verhältnissen wird noch offensichtlicher. Seine Zustimmung zu den Besonderheiten Russlands (darunter auch die Politik Putins) wächst. Das alles ist nicht an und für sich schon problematisch. Zweifellos zeigt sich uns hier auch ein Mensch, der sich auf einer inneren Suche befindet: Das verdient Respekt. Wilks Kultur- und Gesellschaftskritik erweist sich allerdings mitunter als pauschal und undifferenziert. Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich der Autor künftig weiter entwickeln wird.

Einer gewissen Gefahr entkommen Wilks Reisenotizen schon jetzt nicht. Der westlichen Journalistenzunft wirft der Autor verschiedentlich vor, sie würden von Russland nur Moskau und Petersburg kennen und von diesen beiden Städten auf das ganze Land schließen. Der Vorwurf ist als solcher sicher nicht ganz unberechtigt. Wilk hält seinen Kollegen dafür die russische Provinz und die Randgebiete des Riesenreichs entgegen. Das ist natürlich zu begrüssen und für den Leser mit einigem Gewinn verbunden, solange Wilk damit bezweckt, unser Bild von Russland mit neuen Facetten zu ergänzen - oder hier und da auch zu konterkarieren. Wilk tendiert jedoch dazu, seine Erfahrungen abseits der Zentren seinerseits zum wahren Russland zu erklären. Damit aber konstruiert er gleichfalls sein eigenes Russland, das nicht mehr frei von Klischees und Stereotypen ist. Dazu passt denn auch, dass sich der Autor des "Hauses am Onegasee" selbst ein wenig zum russischen "Mushik" stilisiert, zu einem echten Kerl wie die Einheimischen am Onega-See: An seinem Haus legt er Hand an, er hackt Holz, er baut sich seinen richtigen russischen Ofen gleich selbst und hilft bei der Instandstellung einer Kirche, er säuft einvernehmlich mit den Russen und verleiht sich mitunter Züge eines Einsiedlers und Jägers.

Man kann Wilks Reisenotizen aus dem russischen Norden genießen. Man muss sie aber auch ein wenig relativieren und als das nehmen, was sie eigentlich sind: Ein möglicher, aber eben auch subjektiver Blick auf Russland.


Titelbild

Mariusz Wilk: Das Haus am Onegasee. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Martin Pollack.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552054486

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