Heimsuchung

Sándor Márais Roman "Die Möwe" erzählt einfühlsam von den inneren Zerrissenheiten eines menschlichen Lebens

Von Thomas HummitzschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hummitzsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt sie nicht, diese Situation, einem unbekannten Menschen zu begegnen, der einer vertrauten Person auf geradezu unheimliche Art und Weise ähnlich sieht? Die Situation des Erstaunens, um dann doch nicht die alles auflösende Frage "Bist Du's?" zu stellen. Diejenigen, die diese Situationen erleben, bleiben meist zweifelnd zurück. War es Illusion oder Wirklichkeit? Einen solch illusorischen Moment erlebt ein ungarischer Minister in "Die Möwe", der jüngsten Wiederentdeckung aus dem Œuvre des großen Romanciers Sándor Márai, als die junge Lehrerin Aino Laine sein Büro betritt. Sie erinnert ihn an seine große Liebe Ilona, die sich mit Blausäure aus der Apotheke ihres Vaters das Leben genommen hat. Die junge Finnin in seinem Büro erscheint ihm wie eine Reinkarnation, wie eine schicksalhafte Rückkehr der toten Geliebten. Kann eine fremde Frau der Vertrauten derart ähnlich sein, ohne in einer Verbindung mit ihr zu stehen? Oder ist es gar die verloren Geglaubte, die vor ihm steht?

Aino Laine floh aus ihrem Heimatland, als die finnische Regierung sich mit Nazideutschland gegen die sowjetische Großmacht verbündete. Seither reist sie, getrieben von den Europa erobernden Nazis, durch die europäischen Metropolen und gelangt nach Budapest. Um dort zu arbeiten, benötigt sie jedoch eine Genehmigung, die sie sich von Minister Rat erhofft. Dieser gerät ob der visuellen Verwandtschaft mit seiner Ex-Geliebten in Unruhe und lädt die junge Lehrerin für den Abend in die Oper ein. Die anschließende Nacht gehört allein dem Dialog zwischen dem schicksalsergebenen Minister und der jungen Finnin. "Die Möwe" ist - wie schon Márais wiederentdeckter Roman "Die Glut" - das Dokument eines intensiven Gedankenaustausches zweier Menschen, die sich zwar vertraut fühlen, zwischen denen objektiv aber Welten stehen. Seit der Wiederauflage von "Die Glut" erlebt Marai eine wahre Renaissance. Eine Vielzahl seiner Romane, Aufzeichnungen und essayistischen Betrachtungen wurde seitdem neu aufgelegt und erfreut sich einer begeisterten Leserschaft.

Sándor Grosschmid de Márai wurde am 14. April 1900 im damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Kaschau (dem heutigen Košice in der Slowakei) geboren. Sein Studium begann er in Budapest, wo ihn jedoch schon bald das Gefühl beschlich, vor seinen Augen "falle alles auseinander." Er wechselte 1919 an die Universität in Leipzig, später nach Frankfurt am Main und Berlin, bevor er als Korrespondent der Frankfurter Zeitung 1923 nach Paris ging. 1928 sah er sich aus finanziellen Gründen jedoch gezwungen, zurück nach Ungarn zu gehen. Er arbeitete in Budapest als Journalist und hatte dort eine schaffensreiche Zeit als Autor und Publizist. Konfrontiert mit dem wirtschaftlichen Niedergang und den antiliberalen, nationalistischen Tendenzen unter dem ungarischen Reichsverweser Miklós Horthy entstanden in den 1930er-Jahren vor allem seine essayistischen zeit- und gesellschaftskritischen Werke wie "Die Schule der Armen" oder der autobiografisch geprägte Roman "Bekenntnisse eines Bürgers". Auch in "Die Möwe" findet sich die Enttäuschung Marais über den gesellschaftlichen und moralischen Verfall wieder, den er im Europa der 1930er-Jahre beobachtete. Es ist der Massenmensch - "diese sprießende, wuchernde Unpersönlichkeit, die über alles ,ihre Meinung' hat und von nichts wirklich eine Ahnung" - der Europa in das Elend des alles zerstörenden Krieges stürzte und der dem ungarischen Minister in Budapest an jeder Straßenecke begegnet.

Diese Zeit bildet den historischen Hintergrund von "Die Möwe". Eine Notiz in seinen Tagebüchern lässt darauf schließen, dass der Ideologiekonflikt zwischen Faschismus und Kommunismus ausschlaggebend für den Titel des Werkes war: "[Ich hatte eine] Möwe beobachtet, die regungslos in der Höhe stehend das Ufer abspähte [...] nach vorne sieht sie nicht, den Horizont kennt sie nur in der Perspektive der rechten und der linken Hemisphäre. Ähnlich wie ein Ideologe, der die menschliche Welt allein aus rechter oder linker Sicht kennt. Doch man kann auch gerade sehen, [...] dazu braucht man eine Stirn und in ihr Augen." Márai hatte diese Augen, diesen aufgeweckten Beobachtungssinn, der ihn davor bewahrte, den Versprechungen der Ideologen zu erliegen. Er bewahrte sich stets seinen kritischen Geist.

Diese ideologiekritische Haltung ist nicht zuletzt auch Resultat des eigenen Aufreibens zwischen den Weltanschauungen. Sándor Márai war sowohl Verfolgter des ungarischen Naziregimes der Pfeilkreuzler als auch Gegner der ungarischen Kommunisten. Seit 1941 führte Ungarn Krieg an der Seite Deutschlands. Márai, dessen Frau Lola Jüdin war, ging in den Untergrund und veröffentlichte aus diesem sein heute bekanntestes Werk - "Die Glut". Von den Kritikern im kommunistischen Ungarn wurden seine Werke mit vernichtenden Kommentaren bedacht, die Bücher wurden verboten. Über die Schweiz und Italien wanderte Márai schließlich in die USA aus und lebte gezwungenermaßen im Exil. Sein Leben dort brachte ihn dem Ungarischen nur noch näher, denn das Schreiben sei ihm nur in der Muttersprache möglich, offenbarte Márai in seinen Tagebüchern. Welch Sprachvirtuose Sándor Márai war, wird auch in "Die Möwe" erkennbar. Deutlich zeigt sich sein Sprachgefühl in der Namensbedeutung der jungen Finnin und deren Verbindung zu Minister Rats Reinkarnationsillusion. Aino Laine bedeutet "Einzige Welle", kein Zufall in einem Roman, in dem die Einzige verloren geglaubt ist und einer Welle gleich wiedergebracht wird. Auch "Die Möwe" ist geprägt von einer dichten, intensiven und eindringlichen Sprache, die Márais Werke so unverwechselbar identisch und authentisch machen.

Heimat war für Márai jedoch weniger ein Ort, als vielmehr ein Gefühl der Verbundenheit und des Rückhalts. Diesen Rückhalt bot ihm seine Familie. Als seine Frau Lola 1986 ihrem Krebsleiden erlag und nur ein Jahr später auch sein Adoptivsohn János verstarbt, verlor der Ungar die Lust am Leben. "Eines Tages erwacht man und reibt sich die Augen: Man weiß nicht, wozu man erwacht ist. [...] Nicht einmal das Unerwartete, Ungewohnte, Schreckliche überrascht einen, weil man alle Wechselfälle kennt, mit allem rechnet, nichts mehr will, weder Gutes noch Schlechtes", gesteht der lebensmüde General Henrik seinem Jugendfreund Konrád in "Die Glut". Eine ähnliche Überdrüssigkeit am Leben überkam Márai nach dem Tod seiner Frau. Er erschoss sich am 22. Februar 1989.

Der ungarische Schriftsteller lässt den Leser in "Die Möwe" in die Gedankenwelt eines Ministers eintauchen, der, statt Herr über das Schicksal von Millionen zu sein, zum Spielball des eigenen Schicksals wird und mit diesem hadert. Vor dem Auge des Lesers entsteht ein intellektuelles, monologisches Ringen um das Rätsel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die große Frage dabei ist: Wie viel ist die Gegenwart noch wert, wenn sie in der Vergangenheit versinkt und damit in ein melancholisches Trauerspiel mündet. Denn selbst wenn das Leben keine unbändige Freude sein mag, so ist es doch auch eine Chance. Der Minister lässt sie verstreichen, im Namen einer unsichtbaren, alles steuernden Hand, die auch schon das Leben und die Sehnsucht der zwei gealterten Jugendfreunde in "Die Glut" bestimmt hatte.


Titelbild

Sándor Márai: Die Möwe. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Kunze.
Piper Verlag, München 2008.
186 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783492052085

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