Antiautoritäre role models

F.K. Waechters und Bernd Eilerts "Die Kronenklauer" wurde neu aufgelegt

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Kinder betreten eine Wiese, sie wollen Haselnüsse pflücken, doch dabei werden sie erwischt. Die Nüsse gehören einem König, der die Kinder von seinen Schergen ergreifen, in den Kofferraum seines Wagens sperren lässt und in sein Schloss mitnimmt.

Was ist das für ein Anfang? Was sind das für Kinder? Wie kommen sie auf die Wiese? Wir sehen: in dieser Geschichte ist einiges anders, es fehlt ein setting, das erstmal entfaltet wird, bevor die Handlung einsetzt oder das wenigstens sofort implizit vorausgesetzt werden kann, sobald die ersten drei Sätze gesprochen sind, die die üblichen vertrauten Anhaltspunkte bieten. Aber hier fehlen sie, und kaum hat man sich einigermaßen arrangiert, schon stimmen die einzelnen Elemente weder in sich, noch passen sie zueinander. Aber trotzdem funktioniert es, trotzdem geht die Geschichte gleich los. Dennoch bleiben Fragen: Was ist das für ein angsteinflößend brachiales Handeln des Königs? Und wieso wirkt es gleichzeitig so banal? Was für ein König ist das überhaupt? König von was? Und wieso kümmert der sich um jede einzelne seiner Haselnüsse wie um einen Zwölfender? Was ist das für ein König, der ein Auto fährt statt einer Kutsche? Und der Kinder als Gefangene nimmt? Und der seine Gefangenen in den Kofferraum sperrt, anstatt sie in Ketten zu legen, bevor sie ins Verlies geworfen werden?

Zwar lässt der König sich zu seinem Schloss fahren, aber von einem Verlies hört man nichts. Stattdessen hat der Schlossbetrieb mehr von einem Landschulheim der 1950er-Jahre. Die drei Kinder müssen mit anderen einen sehr strengen Unterricht über sich ergehen lassen, alles ist reglementiert und für jeden Fehler gibt es eine Strafe. Die Kinder sollen Gehorsam lernen, indem sie die stumpfsinnigen Regeln des Königs pauken und indem sie seinen Lobpreis des Königs reproduzieren und verinnerlichen müssen.

Nachdem ein Fluchtversuch misslang, täuschen die drei arglistig Bravheit vor, planen aber insgeheim, die Krone des Königs zu klauen, weil gilt, dass am Besitz der Krone das Königsein hängt. Und tatsächlich: einmal seiner Krone beraubt, ist der König keiner mehr, die Würde geht über an Dr. Johannes Loy, weil der so klug ist. Dieser übt das Königtum nicht selbstherrlich aus, sondern versteht es als Amt, als dessen Inhaber er seinen Bürgern zu dienen hat. Doch gerade die eher bürokratische Haltung von König Loy sorgt bald für Probleme. Denn die Kinder sind hungrig und müssen für ihr Essen arbeiten, wozu sie erstens ohnehin keine Lust haben und was ihnen zweitens obendrein zu langweilig ist. Die ehemals königmachenden Kinder sind enttäuscht, dass ,ihr' König diese Zustände legitimiert und stehlen deswegen ein zweites Mal die Krone. Dieses Mal aber sind sie klüger und küren nicht jemand anderen, sondern schmieden aus der einen großen Krone viele kleine, damit sie jedem Bürger dieses merkwürdigen Landes eine geben können. Die Macht wird zerstäubt, wo jeder König ist, da ist keiner mehr König.

"Die Kronenklauer" erschien zum ersten Male im Jahre 1972 und ist nun wieder neu aufgelegt worden. Schaut man sich die Handlung an, kennt man die beiden Autoren - Waechter und Eilert waren Mitbegründer der satirischen so genannten "Neuen Frankfurter Schule", aus der später die Satire-Zeitschrift "Titanic" hervorging -, wirft man nur einen oberflächlichen Blick auf die Handlung und berücksichtigt man das Jahr der ersten Veröffentlichung, so wird man schnell wissen, dass dieses Buch den Geist der antiautoritären Revolte von 1968 atmet. Und zwar dessen bessere Erscheinungsweisen. Die klassischen Autoritäten werden lächerlich gemacht. Wo alle Handelnden außer den Kindern Tiere sind, da ist der König natürlich ein fettes Schwein mit Namen "König Schwarte", seine Schergen sind Hunde, sein Vetter, ein mageres Schwein, ist der Schloss-Geistliche, der die Kinder nach ihrer Flucht mit einer windigen Morallogik zur Räson zu bringen versucht. Die Kinder sind von allen Autoritäten unbeeindruckt wie kampferprobte Subversive und können lesenden Kindern als antiautoritäre role models dienen. Sie veranschaulichen einen Lernprozess in Sachen Herrschaftskritik, wenn sie das zweite Mal die Krone stehlen: dass es nicht genügt, das Herrschaftspersonal auszutauschen, sondern dass Herrschaft an den Souverän zurückgegeben werden sollte.

Aber Eilert und Waechter bleiben nicht einfach beim Offensichtlichen der Handlung stehen, sie machen nicht in Agitprop. Ihre Subversion des Gewohnten ist zum einen in die erzählerische Präsentationsart der Geschichte eingelassen, zum zweiten in das Buch als Buch und zum dritten ist die Geschichte als Geschichte in Frage gestellt.

Denn erstens enthält das Buch eine Vielzahl von Erzählformen. Es gibt den erzählenden Text und die ihn begleitenden Bilder, dann aber lösen die Bilder den Text immer wieder als Erzähler ab. In Bildgeschichten, -paradoxa und Bilderrätseln folgt man den Gedankenspielen der Kinder. Wort- und Buchstabenspiele, Geheimschriften und Faltbilder müssen enträtselt werden. Auf diese Weise kann man die Subversion der Kinder nicht nur betrachten, sondern sie selbst nachvollziehen. Zugleich bekommt man gestalthaft präsentiert, was Subversion ist: in dem, was unauffällig scheint, etwas zu verstecken, was sich nicht fügt (die Geheimschrift); aus dem Braven das Aufrührerische hervorzuholen (das Faltbild); das Geregelte gegen es selbst zu wenden, indem man es neu zusammensetzt (die Regeln des Königs).

Zweitens soll nach dem Willen der Autoren das Buch handgreiflich benutzt werden. Man kann nicht nur hineinmalen, man muss sogar passagenweise Seiten heraustrennen, durchschneiden und neu zusammensetzen, um den Intentionen der Autoren folgen zu können. Ein Puzzle und ein Kleiderbastelbogen liegen bei und können ausgeschnitten und neu verwendet werden.

Drittens werfe man einen Blick auf den Anfang: "Einer denkt sich eine Geschichte aus. Einer denkt sich aus, wo eine Geschichte passiert, wer darin vorkommt, was geschieht." Jede Geschichte - nicht nur "Die Kronenklauer" - wird als produzierte vorgeführt und bewusst gemacht. Waechter und Eilert zählen die Ingredienzen auf, die sie zusammentun, um anfangen zu können, und dann kann man zusehen, wie die einzelnen Elemente sich im Handumdrehen verbinden und als Erzählung an Fahrt gewinnen. Dies bedeutet: hinter jeder Geschichte steht ein Produzent, wodurch sie ihren autoritativen Charakter verliert, den sie durchaus haben kann, wenn sie dem Kind als etwas Geschlossenes (zumal in der Gestalt des Märchens) gegenüber tritt. Dies bedeutet aber auch: man kann eine solcherart dekonstruierte Geschichte zu seiner eigenen machen, sie sich aneignen, in sie eingreifen. Hierzu fordern die Autoren immer wieder auf. Wenn man ihrer Aufforderung nachkommt, dann wird man selber aktiv; man muss es, wenn man dies als Last empfindet, man kann und darf es, wenn man nur darauf gewartet hat.


Titelbild

Friedrich Karl Waechter / Bernd Eilert: Die Kronenklauer.
Mit Bastelbogen.
Diogenes Verlag, Zürich 2008.
192 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783257011319

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