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Dieter Kühn widmet Gertrud Kolmar eine ansprechende Biografie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mitte der 1980er-Jahre erschien das "Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800-1945". Sein Umschlag zeigt das einzig erhaltene Porträt einer von den Nazis ermordeten Lyrikerin: Gertrud Kolmar, die im Inneren des Bandes auf zwei Seiten vorgestellt wird, von denen eine die Bibliografie ihrer Werke und der Sekundärliteratur enthält. Ziemlich genau zehn Jahre später brachte es der Kolmar gewidmete Eintrag in Renate Walls seit 2004 in überarbeiteter und erweiterter Fassung vorliegendem "Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933-1945" auf immerhin gut fünf Seiten.

Genauer und ausführlicher als es jedem Lexikon möglich ist, informiert seit jüngstem eine von Dieter Kühn verfasste Biografie über die Dichterin. Ihr Titel "Gertrud Kolmar. Leben und Werk, Zeit und Tod" zeigt an, dass es dem Biograf nicht nur darum zu tun ist, ihren Lebensweg zu beschreiben und über ihr Œuvre zu informieren. Vielmehr bettet er beides in die Zeitgeschichte ein, die die 1894 in Berlin geborene und Anfang 1943 in Auschwitz ermordete Kolmar durchlebte und in ihren letzten Jahren mehr und mehr durchlitt.

Hierzu bedient sich Kühn eines Kunstgriffs, der darin besteht, gelegentlich in die Rolle von Kolmars Geschwistern Georg, Hilde und Margot sowie vor allem ihres Vaters zu schlüpfen, denen er fiktive Briefe in die Feder diktiert, die sie aneinander richten. So lässt er den Vater vor allem zu Beginn ausführliche Briefe an seine Tochter Hilde schreiben, in denen er sie mit "Baumaterial" über die Vergangenheit und Vorgeschichte der Familie unterrichtet, das er ihr "zur freien Verwertung und Verwendung" für eine Familienchronik zur Verfügung stellt, deren Schwerpunkt auf die Schwester der Adressatin, Gertrud gerichtet sein soll. Sind die Briefe auch fiktiv, so hat Hilde Kolmar sehr wohl tatsächlich die Absicht gehegt, eine solche Familienchronik zu schreiben. Allerdings wurde das Unternehmen nie ausgeführt.

Zwar wirken die erfundenen Briefe aufgrund der gelegentlich allzu deutlich durchschimmernden Absicht, die Lesenden der Biografie mit ihrer Hilfe über die Vorgeschichte der Familie Kolmar zu informieren, dann und wann etwas gekünstelt, doch machen sie das Buch insgesamt weit lesbarer, als es die meisten Biografien wissenschaftlichen wie nichtwissenschaftlichen Anspruchs sind. Nun zählt das vorliegende Buch zweifellos zu letzteren, doch erweist es sich auch in Kleinigkeiten oft als penibel genau, ohne dabei je vorzugeben, Gertrud Kolmar und ihre Familie von einem objektiven, gar allwissenden Standpunkt aus in den Blick zu nehmen. Denn "Berichte und Kommentare aus jener Zeit" waren Kühn "wichtiger als Darstellungen im souveränen Überblick oder im Rückblick mit souveräner Attitüde." Das kommt dem Buch zwar insgesamt zu Gute, führt jedoch auch zu einigen Redundanzen.

Zu monieren ist zudem, dass Kühn ganz auf die Nachweise von tatsächlichen Zitaten verzichtet. Auch einer nichtwissenschaftlichen Biografie stünden entsprechende Fuß- oder Endnoten sowie ein Literatur- und Quellenverzeichnis nicht schlecht zu Gesicht. Doch Kühn beschränkt sich auf gelegentliche allgemeinere und oft vage Quellenangaben im Text selbst. Dies gilt auch für die Zitate Gertrud Kolmars, die anders als die fiktiven Briefe ihrer Verwandten ausnahmslos authentisch sind, wie der Autor versichert. Aufgrund der mal mangelnden, mal mangelhaften Quellenangaben lässt sich jedoch nicht nachschlagen, wann, aus welchem Anlass und wem Kolmar beispielsweise über ein bestimmtes Kindheitserlebnis berichtet hat. All dies wäre aber zur Beurteilung ihres Berichts nicht ganz unwesentlich.

Und gleich noch eine weitere Kritik: Dass Kühn immer wieder den bestimmten Artikel vor Kolmars Nachnamen setzt, stört doch sehr. Ein Sexismus, von dem man anzunehmen geneigt ist, er unterlaufe dem Autor unbewusst. Doch bekennt er nach exakt 250 Seiten ganz unvermutet, er wisse sehr wohl, dass es "im Rahmen der Gleichberechtigung" üblich ist, "[i]n germanistischen Texten" nur "Kolmar", also ohne den Artikel, zu schreiben - und nicht nur dort, möchte man hinzufügen. In diesem Zusammenhang erklärt er nun explizit, warum er den Artikel dennoch vor den Namen seiner Protagonistin setzt. Es solle nicht etwa "abschätzig oder herablassend klingen", sondern ganz im Gegenteil "Hochachtung signalisier[en]". Das mag zwar so gemeint sein, blendet aber die Geschichte und Konnotation dieser Formulierung ebenso aus, wie die allbekannte und sehr überzeugende Kritik, welche die feministische Linguistik seit langem an dieser Unart übt.

Viel mehr bleibt an dem Buch nun allerdings nicht zu monieren. Vielleicht noch, dass unerfindlich bleibt, wieso Kühn einem gebildeten Menschen wie Kolmars Vater das falsche Wort "aufoktroyiert" aus der Feder fließen lässt.

Aufgrund der misslichen Quellenlage versucht Kühn notgedrungen, Kolmars Lebensraum und ihrem Daseinsalltag mittels Analogiebildungen zu ähnlichen Lebensläufen beziehungsweise Lebensstationen von Zeit- und SchicksalsgenossInnen nahe zu kommen. Kolmars Gedichte und ihre literarischen Werke lässt er im Unterschied zu einem "weithin übliche[n] Verfahren" nicht als biografische Quellen gelten und verzichtet zwar nicht, wie er behauptet, "generell", aber doch immerhin fast vollständig darauf, "Gedichtzitate kurzzuschließen mit Fakten oder Phasen ihres Lebens". Und dies, obwohl er konstatiert, dass sich zumindest in Kolmars frühen Werken "Intensität am ehesten [entwickelt], wenn das Lyrische Ich und das Ich der Dichterin zu verschmelzen beginnen." Statt also das biografische Dunkel mit der Fackel des Lyrischen Ich ausleuchten zu wollen, stellt er, eingebettet in den chronologischen Gang der Biografie, immer wieder "kleine Folge[n]" von Gedichten vor. So wird ihm die Werkgeschichte zur "Sequenz der Lebensgeschichte".

Zwar ist Kolmars Leben nicht eben reich an Ereignissen, die 'Sensation machten' oder ein voyeuristische Interesse der Lesenden wecken könnten. "Das einzige Abenteuer, auf das sie sich rückhaltlos einließ, war der Umgang mit Sprache", bemerkt Kühn zutreffend. "Wichtiger als die persönliche Entwicklung" sei ihr "die Entwicklung ihrer literarischen Arbeiten" gewesen. Die Dichterin, erklärt er, habe sich "gleichsam hinter der kleinen Frau [versteckt], bei deren Anblick man eher an ein nettes Tantchen von nebenan dachte als an eine Lyrikerin, die Gedichte von Weltrang schrieb". Anders als manche Bohème-Autorin ihrer Zeit, man denke nur an Else Lasker-Schüler oder Franziska zu Reventlow, hat Kolmar also ein sehr häusliches, man könnte sagen zurückgezogenes Leben geführt. Die Bohèmienne Oda Schaefer charakterisiert sie als "[s]cheu und unscheinbar, in sich selbst versteckt". Ihr Biograf spricht ihr eine "Lebensform des Verzichts, der Abhängigkeit" zu.

Einige einschneidende Ereignisse mag es dennoch gegeben haben. Womöglich ließ Kolmar als junge Frau auf Drängen der Eltern eine Schwangerschaft abbrechen und versuchte wenig später, sich zu töten. Doch darüber können, wie Kühn vermerkt, "nur Spekulationen erfolgen im Spielraum des Wahrscheinlichen". Und auf diese verzichtet er weithin.

Abgesehen von einigen Jahren in den 1910er und 1920er, während deren Gertrud Kolmar als Briefzensorin in Döberitz sowie als Hauslehrerin in Hamburg und Peine tätig war, sowie einem Aufenthalt in Dijom, Beaune und Paris 1927, hat sie zeitlebens bei den Eltern beziehungsweise nach dem Krebstod ihrer 1930 verstorbenen Mutter beim Vater gewohnt, einem zur Zeit der Monarchie "kaisertreue[n] Justizrat", der wie Kühn mitteilt, "zuweilen Erzähltexte" verfasste, die sogar ihren Weg in Zeitschriften fanden.

Interessant ist die Biografie trotz Gertrud Kolmars einförmiger Lebensweise. Und das liegt nicht nur an der stilistischen Gestaltungskraft ihres Autors, sondern mehr noch an den Fragen, die Kolmars Leben selbst aufgibt. Je weiter man ihrem Leben - und ihrem Werk - folgt, "desto komplexer wird ihr Erscheinungsbild", das Biograf und Lesende zunehmend vor Rätsel stellt, "die sich kaum lösen lassen." Zu ihnen zählt in erster Linie die Frage, warum sie und - mehr noch - ihr Vater nach der Machtergreifung der Nazis trotz immer drängenderem Anraten von Bekannten und Verwandten nicht auswandern wollten, ihre Jahr um Jahr andauernde "Weigerung, ja Verweigerung", das Thema auch nur zu erörtern. Eine Frage, vor der auch Kühn recht ratlos steht.

Die "historische Zäsur" vom 30. Januar 1933 findet in dem über sechshundert Seiten umfassendem Buch bereits auf Seite 158 statt. Der weitaus größte Teil des Werkes gilt also den letzten zehn Jahren von Kolmars achtundvierzig Jahre währendem Leben, die sie unter dem Schreckensregime des nationalsozialistischen "Räuber- und Mörderstaat[s]", durchlitt. Am 27. Februar 1943 wurde die schon längst Stück für Stück enteignete und schließlich zur Zwangsarbeit herangezogene Dichterin mit 8.000 weiteren jüdischen ZwangsarbeiterInnen während der so genannten Berliner "Fabrik-Aktion" nach Auschwitz verschleppt, wo sie bald darauf wie so viele ermordet wurde. "Ihr Todesdatum ist nicht verzeichnet, ist zumindest noch nicht gefunden worden."

Überlebt aber hat ihr Werk. Das kann zwar kein Trost sein, aber es ist eine Freude. Zu diesem Werk zählt auch eine Reihe von Gedichten, in denen Kolmar sich im Herbst 1933 als "politisch wache Dichterin" bewies. "Es geschieht, was bei der so fernab, so isoliert lebenden Dichterin nicht zu erwarten war: sie schreibt Gedichte, in denen Anklage erhoben wird gegen den NS-Terror." Veröffentlicht werden konnten diese Werke freilich erst nach 1945. Und auch nach der Kapitulation der nationalsozialistischen Diktatur sollte noch längere Zeit verstreichen, bis sie endlich publiziert wurden. Mehr noch als für ihre anderen Gedichte dürfte ein Bekenntnis aus Kolmars letztem erhaltenen Brief für diese unter dem Nazi-Terror verfassten antifaschistischen Gedichte gelten: "Ich schaffe ja nie aus einem Hoch- und Kraftgefühl heraus, sondern immer aus einem Gefühl der Ohnmacht."

Kolmars erste Buchpublikation war bereits 1917 erschienen. Ihr Vater hatte die Veröffentlichung des Gedichtbandes betrieben, vermutlich ohne die Verfasserin vor der Drucklegung davon in Kenntnis zu setzen. Im "forcierten Kriegsgeschrei" des Ersten Weltkriegs lässt das Bändchen die "leise Stimme der Dichterin" in Versen erklingen, "die nicht in 'schimmernder Wehr' einherdröhnen", sondern, eher aus "Zeilen im Abrüstungsgestus" gebildet sind. Eine andere "Grundhaltung", die über ihr gesamtes Schaffen ein ums andere Mal in ihren Gedichten Ausdruck findet und sich "später immer deutlicher ausprägen wird", ist hingegen auch für Kühn irritierend. "Stark vereinfacht" gesagt: "Der Mann ist groß. Die Frau klein; der Mann zentral, die Frau am Rande; der geliebte Held erblüht, die Liebende welkt dahin".

Kurt Pinthus erkannte in Kolmar schon früh "mehr als eine Begabung - eine Traumwandlerin". Und ihr Cousin Walter Benjamin bewährte sich ein ums andere Mal als ihr "Förderer". Entscheidend für die Entwicklung der Dichterin war Kühn zufolge allerdings erst Kolmars Aufenthalt in Paris und anderen französischen Städten 1927. Er habe eine "Befreiung", eine "Mutation" ihrer Lyrik ausgelöst, nach der ihre Texte "kaum wiederzuerkennen" gewesen seien. "Von nun an erkennt man Gedichte der Kolmar auch ohne Namenshinweis." Behauptungen, die von den Lesenden anhand der ausführlichen Zitate manchmal ganzer Gedichte ohne weiteres überprüft werden können.

Zwar ist Kolmar vor allem als Lyrikerin bekannt, und dies durchaus zu recht, doch hat sie auch ein Theaterstück und mehrere Prosatexte verfasst. Darunter den Roman "Die jüdische Mutter", an dem sie von August 1930 bis Anfang Februar des folgenden Jahres schrieb. Hinweise darauf, dass sie das Manuskript über eine alleinerziehende Mutter, deren fünfjähriges Töchterchen missbraucht und ermordet wird, nach seiner Vollendung einem Verlag vorgelegt hat, konnte Kühn nicht finden. "Erfolg", erklärte die Dichterin einmal, "[n]un, er ist mir nicht wichtig genug, wesentlich ist anderes." Auch die um 1940 entstandene Erzählung "Susanna" wurde erst posthum veröffentlicht. Nach dem ersten Buch von 1917 sollten siebzehn Jahre verstreichen, bis 1934 ein zweites Bändchen mit Gedichten erschien. Vier weitere Jahre später folgte der dritte und letzte zu Kolmars Lebzeiten veröffentlichte Gedichtband.

So sehr Kühn auch die Dichterin Kolmar lobt, zögert er doch nicht, vehemente Kritik zu üben, wo er es für angebracht hält. Denn schließlich möchte er "keine Biographie im Weichzeichner-Verfahren" vorlegen. Diese Kritik gilt vor allem Kolmars Verehrung für Robespierre, den Vorreiter des Hinrichtungsterrors während der Französischen Revolution. Seiner Verherrlichung dient Kolmars einziger essayistischer Text "Das Bildnis Robespierres".

Kühns Biografie gelingt es, den Lesenden eine Tür zu Gertrud Kolmars Welt zu öffnen, der äußeren der Monarchie, der Republik und vor allem des Nationalsozialismus und der inneren der Lyrik. Sie bringt ihnen Leben und Werk der Dichterin so nahe, wie es einer Biografie eben möglich ist.


Titelbild

Dieter Kühn: Gertrud Kolmar. Leben und Werk, Zeit und Tod.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
620 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783100415110

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