Auf der Suche oder auf der Flucht?

Jean-François Vilar auf den Spuren einer Teilgeschichte der Linken

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrer umfänglichen Studie zum "Neopolar" genannten neuen französischen Kriminalroman haben Elfriede Müller und Alexander Ruoff ("Histoire noire. Geschichtsschreibung im französischen Kriminalroman nach 1968", 2007) die Aufarbeitung der spezifischen Geschichte der Linken seit der Französischen Revolution als zentrale Maßnahme beschrieben, mit der die (anscheinend durchweg) der radikalen Linken zuzuordnenden Neopolar-Autoren den Niedergang der '68er-Revolte aufzuarbeiten versuchten. Die Auseinandersetzungen zwischen Trotzkisten und Stalinisten in den 1930er-Jahren gehört dabei zu den wichtigsten historischen Themen - nicht zuletzt, weil die Zersplitterung der Studentenbewegung in die verschiedenen politischen Gruppen und Grüppchen für den Misserfolg von '68 mitverantwortlich gemacht wurde. Die historische Folie der 1930er-Jahre, in der die Splittergruppe um den exilierten Trotzki und die IV. Internationale mit den in der Sowjetunion herrschenden Stalinisten weltanschauliche Konfessionskriege ausfocht, ist damit recht schnell als Analoggeschehen zur Geschichte um 1970 herum zu sehen, in der die Auseinandersetzungen innerhalb der radikalen Linken mit kaum geringerer Ernsthaftigkeit geführt wurde. Eine Ernsthaftigkeit, die sich nicht zuletzt auf das Diktum Lenins zurückführen lässt, dass die Frage des Sozialismus eine Frage der Macht sei - eine Lektion, die Stalin sichtlich besser gelernt hatte als alle seine Konkurrenten. Dass dabei der Kampf gegen den Faschismus, der Europa schließlich in die Katastrophe führen würde, marginal wurde, ist dabei der historische Vorwurf, der die radikale Linke bis heute umtreibt. Die Vorrangkämpfe innerhalb des eigenen Lagers über den Kampf gegen den eigentlichen Feind (wahlweise den Faschismus oder den Kapitalismus) zu stellen, zeugt von einer historischen Kurzsichtigkeit, mit der auch die nachkommenden Generationen ihre Last haben, und dies nicht, weil sie es grundsätzlich besser und anders gemacht hätten, sondern weil sie in dieselbe Falle geraten waren.

Vilars Roman nun spannt solche Themen in ein mehrfaches Geflecht ein, das die Pole'68 und 1930er-Jahre noch mit der Geschichte einer Gegenwart (von 1989) verbindet, in der der subjektive wie gesellschaftliche Aufbruch die Niederlage beider historischen Phasen aufheben - in welchem Sinne allerdings, das bleibt lange offen.

Der Roman setzt dabei bei einem Krimientwurf an, der aber ins Leere läuft: Victor und Alex sind vor einigen Jahren in irgendeinem Krisengebiet zufälligerweise vom selben Kommando entführt worden. Nun werden sie freigelassen und kehren - gezeichnet von der jahrelangen Geiselhaft - nach Paris zurück. Victors Wohnung ist zudem vorher von Unbekannten verwüstet und leergeräumt worden. Sein in Jahren zusammengestelltes fotografisches Archiv zu Paris ist verschwunden, nur seine beiden Katzen, die den lange vermissten Hausherrn äußerst zurückhaltend begrüßen, sind noch da.

Kündigt dieser Raub schon von schweren Verwerfungen, die die folgende Handlung für den Protagonisten bereithalten wird, wird mit dem Tod Alex', der bei einem - vielleicht fingierten - Autounfall das Leben verliert, das bedrohliches Szenario erst wirklich präsent. Die Wohnung ausgeräumt, der Leidensgefährte möglicherweise ermordet - was läge näher als eine umfängliche und intensive Suche nach den Hintergründen der Tat, nicht zuletzt auch nach den Hintermännern der Entführung?

Doch auch diese für einen Kriminalroman nahe liegende Handlungsoption läuft ins Leere. Die Entführung, der Wohnungseinbruch, der Tod des Mitgefangenen - was davon aufgeklärt wird, hängt mehr mit der Neuorientierung zusammen, die Victor erst absolvieren muss, bevor er in seiner Gegenwart wieder angekommen ist.

Der vermeintliche Start als tabula rasa wird zudem angeschlossen an die Ereignisse des späten Jahres 1989, an den Fall der Mauer, das Auseinanderbrechen des Ostblocks und der (weitgehend) friedlichen Revolutionen, mit denen die realsozialistischen Machthaber vertrieben wurden.

Damit aber gerät das Schicksal Victors mehr und mehr in den Hintergrund. Hinzu kommt, dass er von der Geliebten seines langjährigen Schicksalsgenossen die Aufzeichnungen eines jungen Trotzkisten mit künstlerischen Neigungen erhält, der in den Wirren um die Machtkämpfe zwischen Trotzkisten und Stalinisten, zwischen Nazi-Deutschland und den späteren Alliierten verloren geht und - anscheinend - den internen Machtkämpfen zum Opfer gefallen ist. Alfred Katz ist sein Name und er ist der Vater seines verunglückten Schicksalsgenossen Alex. Das typische Schicksal eines der vielen kleinen Akteure des literarisch-politischen Feldes in den späten 1930er-Jahren. Victor setzt sich nun nicht nur in der Lektüre der Aufzeichnungen fest und versucht das Geschehen und damit das Schicksal des jungen Alfred Katz zu rekonstruieren, was als historiografisches Memento funktioniert.

Zugleich versucht er seinen Helden wieder neuen Bewegungsspielraum zu verschaffen und damit aus seiner selbstverschuldeten biografischen Starre zu lösen. Das Ganze als exemplarischen, ja symbolischen Neuaufbruch der radikalen Linken aus der Perspektive der Nachwendezeit anzusehen, ist wohl nicht verfehlt. So gerät Vilars Roman zu einem Exempel der linksradikalen Erinnerungskultur, mit der geordnet und neu ausgerichtet wird, was mit dem Ende von '68 erstarrt ist. Das ist insgesamt lesenswert, zumal um dieses Geschehen vor dem Vergessen zu retten. Als Kriminalroman funktioniert der Text hingegen dabei immer weniger. Was seiner Qualität allerdings kaum Abbruch tut.


Titelbild

Jean-Francois Vilar: Die Verschwundenen.
Übersetzt aus dem Französischen von Andrea Stephani und Barbara Heber-Schärer.
Assoziation A, Berlin 2008.
464 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783935936644

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