Vierzig Jahre Zeitkritik

Die gesammelten politischen Schriften des Sprachphilosophen Noam Chomsky bieten ein zweifelhaftes Lesevergnügen

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich ist die theoretische Philosophie (genauer: die Linguistik) Noam Chomskys Arbeitsgebiet. Fachleute kennen und schätzen seinen wichtigen Beitrag zur Sprachwissenschaft, insbesondere zur Erforschung formaler Sprachen, wie sie etwa in der Informatik Anwendung finden. Daneben ist Chomsky jedoch ein sehr praxisbezogener Denker, der sich, wann immer ihm die Zeit blieb, in Politik und Gesellschaft eingemischt hat. Vom Vietnamkrieg bis zum "War on Terror" begleitete der große Intellektuelle die US-Politik aufmerksam, kritisch und wortreich.

So kommt es, dass die politischen Schriften in seinem Werk einen weit größeren Umfang einnehmen als die Fachpublikationen und Chomsky über die eng begrenzten akademischen Linguistenkreise hinaus einem breiten Publikum bekannt wurde. Wer sich in den letzten Jahrzehnten auch nur marginal mit der US- und Weltpolitik befasst hat, kam an dem Philosophen vom renommierten "Massachusetts Institute of Technology" nicht vorbei. Anders gesagt: Noam Chomsky ist der "wohl bedeutendste lebende Intellektuelle" (New York Times). Zu seinem 80. Geburtstag, den Chomsky am 7.12. diesen Jahres feierte, erschien nun eine Sammlung mit seinen zum Teil unveröffentlichten politischen Essays aus den letzten vierzig Jahren unter dem programmatischen Titel "Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen". Es handelt sich bei dem im Kunstmann-Verlag erschienen Band um eine Auswahl aus dem ebenfalls 2008 erschienen "The Essential Chomsky" (The New Press, New York), die Anthony Arnove als Herausgeber besorgte.

Der Durchgang durch die Zeitgeschichte hinterlässt zwiespältige Gefühle: Einerseits ist es durchaus interessant, Aufsätze aus vierzig dramatischen Jahren US-Politik zu lesen, zumal Chomsky mit seinem brillanten Scharfsinn in unterhaltsamem Stil ein anderes Amerika zeigt als es uns die Massenmedien seit jeher zu vermitteln versuchen, andererseits sind die Methoden und Themen im Jahr 2008 größtenteils obsolet. Man nimmt die Relikte einer vergangenen Zeit mit deutlicher Distanz zur Kenntnis, etwa die Tatsache, dass Chomskys Analyse auf einer Affinität zu anarcho-syndikalistischen Gesellschaftsmodellen basiert. Der sozialistische Duktus seiner Essays aus den 1960er- und 1970er-Jahren mit seinem Lob für die "revolutionäre Praxis" wirkt heute sehr befremdlich. Zudem findet seine Kritik vor einem konkreten historischen Kontext statt, an den sie zugleich gebunden ist. Die US-Militäraktionen in Vietnam und Nicaragua sind auf heutige Interventionsüberlegungen nicht übertragbar. Und heute noch einen vom US-amerikanischen "Dressurschema" gegängelten Chinesen zu finden, dürfte wohl spätestens seit den letzten Olympischen Spielen schwer fallen. Mindestens so schwer, wie jemanden zu finden, der noch an die These von der "Ausbeutung Chinas" durch die USA glaubt.

Was 1966 in einer Rede zur "Verantwortlichkeit der Intellektuellen" wichtig und richtig anzumerken war, zeigt heute bestenfalls, wie schnell sich die Dinge ändern können. Ein Sammelband, der den Anschein eines geschlossenen Gesamtwerks erweckt und heute diese historischen Texte zu bestimmten historischen Gegebenheiten ohne kritische Kommentare abdruckt, verführt dazu, den fundamentalen Unterschied zwischen 1968 und 2008 zu verwischen und dabei aus dem Auge zu verlieren, dass mittlerweile die Mauer gefallen ist, die Sowjetunion nicht mehr existiert, China in Kürze die größte Volkswirtschaft der Welt stellen wird und sich auch sonst so einiges änderte.

Möchte man zumindest meinen. Chomsky selbst ist offenbar der Ansicht, die Welt habe sich gar nicht so grundlegend geändert. Er denkt immer noch in den alten Kategorie, wenn er einen Aufsatz aus dem Jahr 1967 zum Anarchismus in seinen Kernaussagen unverändert abdrucken lässt, in dem er die "Befreiung des Menschen aus dem Fluch der ökonomischen Ausbeutung und der politischen wie gesellschaftlichen Versklavung" - zweifelsohne "immer noch das Problem unserer Zeit" - mit der "revolutionären Praxis des libertären Sozialismus" vollzogen wissen will.

Auch seine Überlegungen zu "Macht und Gewalt in internationalen Beziehungen" gehen an den Herausforderungen einer globalisierten Welt mit zunehmend asymmetrischer Bedrohung der Sicherheit weitgehend vorbei. Mag der Vietnamkrieg auch ein Trauma für die US-Seele sein und eine Mahnung an die Welt, ist er doch ein schlechter Ratgeber und ein noch schlechteres historisches Beispiel, wenn es darum geht, den humanitären Interventionismus zu analysieren, wie er sich in den letzten Jahren unter dem Stichwort "Responsibility to Protect" in den internationalen Beziehungen etabliert hat und bei dem der Machtbegriff (Souveränität) vom Verantwortungsbegriff (Humanität) abgelöst wird. Ob und inwieweit das realpolitisch funktioniert, kann man durchaus an Chomskys Thesen spiegeln; er selbst sieht dafür offenbar keinen Bedarf. Vielleicht hat er diese Entwicklung seit 2001 gar nicht zur Kenntnis genommen.

Im übrigen vertritt er alles andere als eine klare Linie. Die Ambivalenzen, die sich aus Chomskys Weltbild ergeben, werden an vielen Stellen deutlich. Einerseits: "Kein vernünftiger Mensch wird Gewalt und Terror gutheißen." Andererseits: "Dennoch wird kein Einsichtiger vorschnell jene Gewalt verurteilen, die oftmals vorkommt, wenn lange gedemütigte Massen sich gegen ihre Unterdrücker erheben oder ihre ersten Schritte in Richtung Freiheit und Neuaufbau der Gesellschaft tun." Wer in Zeiten des internationalen Terrorismus die Gewaltakteure immer noch romantisch als Freiheitskämpfer verklärt, verharmlost unzulässigerweise die Situation, die er dann wiederum im Kapitel zum "11. September" zunächst ganz richtig darstellt. Aber auch hier geht er nicht auf die Neuartigkeit dieses "neuen Krieges" (Münkler) ein, der gleichsam nach neuen Antworten verlangt, sondern bleibt in der für seine Weltanschauung paradigmatischen Dichotomie von Macht (USA) und Ohnmacht (Rest der Welt), von Täter (USA) und Opfer (Rest der Welt), um schließlich zu der Fehleinschätzung zu gelangen: "Die grundlegenden Themen der internationalen Gemeinschaft scheinen im Großen und Ganzen dieselben zu sein wie vor dem 11. September." Chomsky scheint die seit 2001 rasant fortschreitende Entwicklung der "Responsibility to Protect" tatsächlich nicht zu kennen, obwohl diese in diversen UN-Dokumenten der letzten Jahre wirksam wurde. Und die Tatsache, dass es mittlerweile einen Internationalen Strafgerichtshof gibt, der momentan in mehreren Fällen durchaus erfolgreich arbeitet, scheint ihn auch nicht allzu sehr zu beeindrucken.

Zudem übertreibt Chomsky maßlos mit seiner Polemik gegen die herrschende US-Innenpolitik. "Staatliche Angriffe auf politisch Andersdenkende" seien in den USA an der Tagesordnung, wo die Mächtigen sich darin üben, "Recht und Gesetz nach ihrer Vorstellung zu formen", um "ihre Feinde kaltzustellen". Chomskys umfangreiches politisches Werk widerlegt wohl selbst am besten derlei Pauschalverdächtigungen gegen den Stammtischfeind Nr. 1 - "die da oben". Und wem genau er damit zu dienen glaubt, wenn er "demokratische Wahlen" (im Original in An- und Abführung) als "Komödien" bezeichnet, bleibt unklar, ebenso warum Chomsky meint, die Öffentlichkeit werde von der Politik weitgehend und von der Wirtschaft grundsätzlich ausgeschlossen. Wohlgemerkt: Er redet von den USA, nicht von Nordkorea.

Stark ist das Buch an zwei Stellen: Als Chomsky an seine eigentliche Profession erinnert und eine linguistische Betrachtung der liberal-demokratischen Kultur vornimmt ("Sprache und Freiheit"), auch wenn die Ausführungen "spekulativ und skizzenhaft" bleiben, und insbesondere als er sich zur Zukunft der US-Politik äußert und wegweisende "Empfehlungen" ausspricht, unter anderem die "Anerkennung der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs" (konkret: die Ratifizierung des Status von Rom), die "Unterzeichnung und Fortschreibung der Kyoto-Protokolle" und - als ein Paradigmenwechsel in der Weltgeschichte - die "Übergabe der Führungsrolle bei internationalen Krisen an die Vereinten Nationen". Mit der neuen Administration Obama steigen die Chancen, dass der Forderungskatalog zumindest ernsthaft geprüft wird.

Positiv hervorzuheben ist zudem der umfangreiche Anhang, insbesondere das Sach- und Personenregister.

Noam Chomsky argumentiert scharfsinnig, er greift mutig Reizthemen auf und bezieht unangepasst Stellung. Das steht fest. Ob er jedoch mit seinen Ausführungen immer auf der Höhe der Zeit und der zugehörigen Diskurse war und vor allem ist, darf in Frage gestellt werden. So taugt er heute wesentlich als Kritiker der massenmedialen Vermittlung von Weltgeschehen und wirkt damit eher auf die Metaebene der Diskurse ein als sie inhaltlich zu bereichern. Vor allem jedoch erfüllt Chomsky als Mahner der Intellektuellen eine unverzichtbare Rolle. So ruft er den Kollegen gleichsam zu: Raus aus den Unis, rein in die öffentlichen Auseinandersetzungen, die zu wichtig sind, um sie der Politik (oder gar dem Markt) zu überlassen. Auch wenn die Selbststilisierung als Vorbild der Zunft sicherlich Geschmackssache ist, an der Wahrheit der Botschaft ändert es nichts: Macht es so wie Chomsky, mischt euch ein! Denn ihr habt "die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken". Allerdings sollte man sich dazu vorher informieren.


Titelbild

Noam Chomsky: Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen. Zentrale Schriften zur Politik.
Übersetzt aus dem Englischen von u.a. Gabriele Gockel.
Verlag Antje Kunstmann, München 2008.
462 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783888975271

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