Das Glück ist eine Pflicht

Der Suhrkamp Verlag wurde fünfzig Jahre alt

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

"Wir hatten Glück." Mit diesem Satz hebt eine Festschrift an, die soeben vom Frankfurter Suhrkamp Verlag aus in die Welt ging, sich selbst und die Literatur zu feiern. Am 1. Juli 2000 wurde die erfolgreichste Gesellschaft der Autoren in der deutschen Geistes- und Literaturgeschichte 50 Jahre alt. Der bedeutendste deutsche Verlag, gegründet von Peter Suhrkamp, bis heute weitergeführt von Siegfried Unseld, hat die ästhetische und intellektuelle Geschichte der Deutschen nach 1945 geprägt und gestaltet.

Als George Steiner 1973das berühmte Wort "the Suhrkamp culture" prägte, war genau definiert, was er damit meinte: Die Schaffung eines modernen philosophischen Kanons, einer verlegerischen Heimat für die von den Nazis vertriebene deutsch-jüdische Intelligenz, die Etablierung eines Forums wahrer Zeitgenossenschaft. Zu allen wesentlichen gesellschaftlichen Fragen fand man bei Suhrkamp das Buch. Die gefragtesten Intellektuellen in Deutschland waren Suhrkamp-Autoren.

George Steiners Wort von der Suhrkamp-Kultur machte Karriere: Der Verlag wusste es werbeträchtig einzusetzen, es leuchtete allgemein ein, und bald war es ein Synonym für eine intellektuelle Aufbruchsstimmung in Deutschland, für eine befreite Debattenkultur, die Schluss zu machen versuchte mit der verstaubt-autoritären politischen Deckelung durch die Adenauer- und Nach-Adenauerregierungen. Der wirtschaftlichen Kraft und Effizienz der Bundesrepublik hatte allmählich auch eine intellektuelle Beweglichkeit zu entsprechen, die bereit war, sich den Fragen der Zukunft vorbehaltlos zu stellen. Auch die Studentenrevolte hatte nur Erfolg, weil ein Innovationsschub der Gesellschaft längst überfälliger war; selbst die Ost-Politik Willi Brandts war gegen alle Widerstände notwendig und konsensfähig geworden. Und ein Verlag, der dies nicht nur begleitete, sondern mit seinen Autoren, Büchern, Programmen mit ermöglichte, war der Suhrkamp Verlag.

Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: Während der reaktionäre Börsenverein seinen Mitgliedern noch in den sechziger Jahren vorschreiben wollte, analog zur Springer-Presse das Kürzel DDR in Börsenblatt-Annoncen nur in Anführungszeichen zu verwenden oder - diskriminierend - zu umschreiben ("Sowjetzone"), während dieser Verein die DDR-Verlage behinderte und sozial wie wirtschaftlich ausgrenzte, setzte der Suhrkamp Verlag mit Siegfried Unseld auf Dialog. Unseld mobilisierte den Verband schöngeistiger Verlage, weil er sich diese Bevormundung nicht gefallen lassen wollte. Er plädierte dafür, dass die DDR-Verlage als Gäste und Aussteller auf der Frankfurter Buchmesse dieselben Rechte und Freiheiten genießen sollten wie ihre westdeutschen und internationalen Kollegen. Selbst propagandistische Werke (wie das berühmte "Braunbuch") sollten sie unbehelligt ausstellen dürfen. Als Verleger Bertolt Brechts konnte Unseld auch gar nicht anders handeln. In den fünfziger und noch in den sechziger Jahren galt Brecht in Westdeutschland in erster Linie als Kommunist, erst in zweiter Linie als Dichter. Der Suhrkamp Verlag war geradezu verschrieen dafür, dass er Brecht verlegte und dass er dies so offensiv tat. Die wildesten Gerüchte und Spekulationen geisterten durch die Gazetten. Die Tatsache etwa, dass im Ost-Berliner Aufbau Verlag eine textidentische Parallelausgabe seiner Werke erschien, wurde dahingehend interpretiert, dass sich der Suhrkamp Verlag seine Brecht-Ausgaben von Moskau finanzieren lasse. Der Eintritt Ernst Blochs in den Verlag Ende der fünfziger Jahre wurde in ähnlicher Weise missverstanden.

Wenige Verlage sind für das innerdeutsche Verhältnisse von so großer Bedeutung gewesen wie Suhrkamp. Willi Brandts Wort "Wandel durch Annäherung" war hier fraglos praktizierte Programmpolitik. Die Suhrkamp-Autoren wollten auch in Ostdeutschland gelesen sein, Ostdeutsche Autoren auch im Westen erscheinen, und so war es selbstverständlich, dass man unkonventionell wirtschaftete und den ewig devisenschwachen Ost-Verlagen entgegenkam. Erst kürzlich bekannte Siegfried Unseld erneut: "Wir leben in einem freien Land, und als Verleger stehe ich dafür ein." Dass sein Wort bis heute gilt, lässt sich zwei Beispielen aus jüngster Zeit entnehmen: Mag auch die ganze Welt Serbien verdammen, mag das aufgeklärte Deutschland anstößig finden, was der Friedenspreisträger von 1998 in der Paulskirche sagte, mag auch der Verleger persönlich anderer Meinung sein als seine beiden Autoren - er steht hinter Peter Handke und Martin Walser und publiziert ihre Streitschriften. "Audiatur et altera pars", über dies Wort hat er schon mit Theodor Eschenburg korrespondiert, und es ist ihm selbstverständliches Gebot von der ersten Stunde seiner verlegerischen Verantwortung.

Was Unseld als programmatisches Credo praktiziert, ist schon für Peter Suhrkamp selbstverständlich gewesen. Der Verlagsgründer war bereits zu Lebzeiten eine Legende. Der Bauernsohn aus dem Oldenburgischen Kirchhatten wurde Lehrer, wollte aber eigentlich Schriftsteller sein. 1919 (oder 1920) begegnete er Bertolt Brecht, wurde Dramaturg und Regisseur am Landestheater Darmstadt, dann wieder Lehrer, bevor er - Ende der zwanziger Jahre - als Zeitschriften-Redakteur zu Ullstein nach Berlin ging. Ende 1932 trat er, zunächst als Herausgeber der ›Neuen Rundschau‹, in den S. Fischer Verlag ein. Schon er empfand Glück, weil er Samuel Fischer noch in seinen letzten Lebensjahren erleben durfte. Suhrkamp überlebte die Nazi-Herrschaft, die Kriegsjahre, die KZ-Haft in Sachsenhausen, er bekam im Oktober 1945 als erster Verleger in Berlin eine Lizenz zum Veröffentlichen von Büchern und konnte schon 1946 wieder produzieren. Zu den ersten Veröffentlichungen des neugegründeten "Suhrkamp Verlages vormals S. Fischer" gehörten Thomas Manns Vortrag "Vom kommenden Sieg der Demokratie" und Hermann Hesses "Glasperlenspiel".

Die Trennung von Fischer ist oft erzählt worden: Als der aus dem Exil zurückgekehrte Bermann Fischer 1949 die Rückgabe der Verlage Berlin und Frankfurt an die Familie S. Fischer forderte, kam es zum Bruch. Ein Vergleich vom 26. April 1950 sah vor, dass 48 Autoren votieren durften, ob sie im S. Fischer Verlag verbleiben oder zu Peter Suhrkamp wechseln möchten. Realiter waren es schließlich 44 Autoren, die sich an der Abstimmung beteiligten. 30 Autoren gingen zu Peter Suhrkamp, darunter Hermann Hesse und Bertolt Brecht. Sie bildeten die finanzielle und programmatische Basis des Verlages. Wenig später nahm er in Frankfurt seine Geschäfte auf. Der 1. Juli 1950 gilt seither als eigentliches Gründungsdatum.

Peter Suhrkamp war ein leidenschaftlicher Büchermacher, der jeden Schritt vom Lektorat bis zur Herstellung überwachte, aber ein guter Kaufmann war er nicht. Der elitäre und pädagogische Zuschnitt seines Programms, die viel zu aufwendigen Gesamtausgaben, seine Vorbehalte gegen das Taschenbuch, seine Zurückhaltung in Fragen der Werbung und des Marketings führten dazu, dass der Verlag wirtschaftlich immer auf der Kippe stand. Grundlegend änderte sich dies erst, als Siegfried Unseld 1959 den Verlag übernahm. Im Januar 1952 war der gelernte Verlagsbuchhändler und promovierte Germanist in den Suhrkamp Verlag eingetreten. Und er hatte etwas mitgebracht, was Martin Walser mit "Begeisterung" und "Hingabe" umschrieben hat: "Eine von Tag zu Tag altmodischer werdende Fähigkeit, Literatur und alles, was damit zusammenhängt, zu überschätzen." Unseld habe, so Walser, "wie jeder zum Handeln Begabte immer nur die Zustimmung gehört". Die Zustimmung zum Relaunch der ›Bibliothek Suhrkamp‹ 1959; die Zustimmung zu den Taschenbuchreihen 1963 (›edition suhrkamp‹), 1971 (›suhrkamp taschenbuch‹) und 1973 (›suhrkamp taschenbuch wissenschaft‹), die Zustimmung zum Kauf des Insel Verlages (1963) und des Jüdischen Verlages (1990). Bis heute verkörpert Unseld das Idealbild eines modernen Verlegers: leidenschaftlicher Leser einerseits, geschickter Stratege und Kaufmann andererseits.

Erst mit seiner Übernahme der verlegerischen Verantwortung im März 1959 begann der Verlag zu prosperieren. 1959 kamen viele glückliche Umstände zusammen, die die Geschicke des Verlages positiv beeinflussen sollten: der Eintritt Uwe Johnsons mit "Mutmaßungen über Jakob"; über dieses einzigartige Autor-Verleger-Verhältnis gibt der 1999 erschienene Briefwechsel Auskunft. Der Eintritt Ernst Blochs. Schließlich die Bekanntschaft mit Willy Fleckhaus, dem Grafiker und Art-Director, der den Suhrkamp Verlag auch buchgestalterisch und ästhetisch zur führenden Adresse in Deutschland machte; Fleckhaus steht für das neue, zeitlose Gesicht der ›Bibliothek Suhrkamp‹, für das Regenbogenspektrum der ›edition suhrkamp‹, für die typografische Schlichtheit und Stringenz der Schutzumschläge und für den Ehrgeiz, einem jeden Buch den optimalen Auftritt zu verschaffen.

Der ästhetischen entsprach die programmatische Sorgfalt: Unseld wollte den Verlag in Literatur und Wissenschaft zum führenden Verlag in Deutschland machen. Peter Suhrkamp hatte dafür den Grundstein gelegt, denn schon er baute nicht nur auf die Gründungsautoren, sondern kümmerte sich intensiv um den literarischen Nachwuchs und um herausragende Wissenschaftsautoren: Max Frisch war von Anfang an dabei (1950 erschien sein "Tagebuch 1946 - 1949"), Adorno folgte 1951 mit "Minima Moralia" nach. Die erste Ausgabe der "Schriften" Walter Benjamins ist noch von Peter Suhrkamp 1955 realisiert worden.

George Steiner meinte mit "Suhrkamp culture" die 1963 gegründete ›edition suhrkamp‹ mit ihrer spezifischen Programmatik, einer Mischung aus Belletristik, Ästhetik, Kulturwissenschaften, Geschichte, Pädagogik, Philosophie, Politikwissenschaften, Politischer Ökonomie, Psychologie, Psychoanalyse und Soziologie. 1966 konnten im Hauptprogramm die ersten Bände der ›Reihe Theorie‹ erscheinen. Es war ein doppelter Start: ›Theorie 1‹ brachte historische Texte von Johann Gottfried Herder über Ludwig Feuerbach bis hin zu Rudolf Carnap; ›Theorie 2‹ brachte Gegenwartsautoren von Thomas S. Kuhn über Noam Chomsky bis hin zu Pierre Bourdieu und Jürgen Habermas. Seit 1970 gehörte die von Alexander Mitscherlich herausgegebene Reihe ›Literatur der Psychoanalyse‹ zum wissenschaftlichen Programm des Verlages, das immer breiteren Raum einnahm. Hier konnte grundsätzlich alles erscheinen, was in einer modernen Wissensgesellschaft denkbar war - alles, bis auf das Dogmatische.

Hans Magnus Enzensbergers berühmte Zeitschrift ›Kursbuch‹ trug bis zur Trennung im Jahr 1970 zur intellektuellen Schärfung des Profiles bei. "Man ist ein anderer geworden", bekundete Joachim Kaiser in einer Besprechung von Heft 4. Überhaupt waren es Autoren wie Hans Magnus Enzensberger, Uwe Johnson, Martin Walser, Jürgen Habermas, Dieter Henrich, Alexander Mitscherlich oder Jacob Taubes, auf die sich Unseld bei seinen Entscheidungen stützen konnte, einige, darunter Enzensberger, Johnson und Walser, dienten ihm auch als Lektoren und Scouts. Das Suhrkamp-Lektorat war - und ist bis heute - das Herzstück des Verlages: dafür sprechen Namen ehemaliger Lektoren wie Thomas Beckermann, Walter Boehlich, Elisabeth Borchers, Karlheinz Braun, Günther Busch, Friedhelm Herborth, Karl Markus Michel oder Urs Widmer. Der große Exodus 1968 infolge der gescheiterten Palastrevolte konnte gleichwohl verkraftet werden.

Anders als Peter Suhrkamp wusste und weiss Siegfried Unseld die Literatur zum gesellschaftlichen Ereignis zu machen: die Verlagsabende, die Suhrkamp-Buchwochen, der legendäre Kritikerempfang, die Stiftungsdozentur für Poetik an der Goethe-Universität Frankfurt, die Gründung der Buchhändlerschule in Seckbach und die systematische Förderung des buchhändlerischen Nachwuchses durch anspruchsvolle Seminare gehen auf seine Initiative zurück. Bildung und Ausbildung sind damals wie heute vorrangige Ziele, geht es doch nicht darum, den Markt zu bedienen, sondern darum, den Markt für die eigenen Autoren und Bücher zu erschließen. Dabei hat sich Unseld immer auf die eigenen Mittel und Möglichkeiten besonnen, hat nie jene Bestsellerei und Scheckbuchverlegerei betrieben, mit der sich viele berühmte Verlage das Programm und die ökonomische Basis zerstören.

Es ist dem Suhrkamp Verlag gelungen, ein intellektuelles Klima zu schaffen, in dem die zarte Pflanze Literatur gedeihen kann. Und sie gedeiht bis heute prächtig. So prächtig, dass auch Rückschläge und Fehlinvestitionen weggesteckt werden können. Denn eine reine Erfolgsgeschichte ist auch diese Geschichte nicht, kann es nicht sein: Viele Reihen oder Subreihen rentierten sich nicht, darunter ›im Dialog‹, die Reihe für das ›Neue Deutsche Theater‹, die exquisite ›Reihe Poesie‹, die ›edition suhrkamp in American text editions‹, die populärwissenschaftliche Reihe ›suhrkamp wissen‹ und anderes mehr. Manche Autoren wurden zur Belastungsprobe: 1960 trat Wolfgang Koeppen in den Suhrkamp Verlag ein und musste über Jahre finanziell unterstützt werden - doch den großen Zeitroman, den alle Welt in den 60-er und noch in den 70-er Jahren von ihm erhoffte, schrieb er nicht mehr. Uwe Johnson litt an einer jahrelangen Schreibblockade, der Einsatz für Günter Eich oder Peter Huchel war ehrenwert, aber kostspielig. Viele Autoren gingen im Dissenz oder fanden hier keine dauerhafte Heimat, darunter Herbert Achternbusch, Barbara Frischmuth, Franz Xaver Kroetz, Dieter Kühn, Jürg Laederach, E. Y. Meyer, Oskar Pastior, Gerold Späth, Ror Wolf. Erst in jüngster Zeit haben Marcel Beyer, Gerhard Falkner, Thomas Hettche und Thomas Kling den Verlag verlassen.

"Nur nicht immer diese Rückschau auf das abenteuerliche Tempelchen namens Suhrkamp Verlag!" Wie also geht es weiter? Wie bisher wird sich Siegfried Unseld als größter Verpackungskünstler nach Christo erweisen und seine Kunst, Rechte optimal zu verwerten, weiter ausüben. Eine neue Reihe, die ›Suhrkamp BasisBibliothek‹, erschließt die Klassiker der Moderne für den Schulunterricht und wird in einer multimedialen Produktpalette aus Buch, Hörbuch und CD-Rom angeboten. Die Saat der Suhrkamp-Wissenschaft ist längst aufgegangen und wird dem Verlag die über Jahre und Jahrzehnte erworbene intellektuelle Spitzenstellung sichern helfen. Die Liste der deutschsprachigen Autoren, die heuer ihr Debut im Suhrkamp Verlag feiern oder mit einer Neuerscheinung vertreten sind, ist durchaus sehenswert: der bereits arrivierte Erzähler Christoph Hein ist mit seinem Roman "Willenbrock" zum Suhrkamp Verlag gewechselt; der 1967 geborene Andreas Meier präsentiert seinen ersten Roman "Wäldchestag"; Jamal Tuschick, geboren 1961, debutiert mit "Keine große Geschichte"; Sabine Neumann mit Erzählungen ("Streit"). Eine Generation stetig produzierender Erzähler und Erzählerinnen ist nachgerückt, darunter Gion Mathias Cavelty, Werner Fritsch, Rainald Goetz, Durs Grünbein, Norbert Gstrein, Katharina Hacker, Thomas Meinecke, Robert Menasse, Albert Ostermaier, Doron Rabinovici, Ralf Rothmann, Hans Ulrich Treichel und Josef Winkler. Die wichtigsten Hausautoren, die seit Jahrzehnten mit dem Haus Suhrkamp verbunden sind, stellen ihre Produktivität weiterhin unter Beweis; im Herbst 2000 erscheinen neue Bücher von Jochen Beyse, Volker Braun, Hans Magnus Enzensberger, Alexander Kluge, Jörg Steiner und Martin Walser.

Und was sich für die deutsche Literatur sagen lässt, ließe sich für die internationalen Autoren wiederholen. Selbst die Nachlässe verstorbener Autoren geben noch große Werke preis. Von Max Frisch erscheint der Briefwechsel mit der Mutter; ausgewählte Korrespondenz gibt Einblick in das Leben und Werk Peter Huchels; ein Band gesammelter Prosa Samuel Becketts enthält drei deutsche Erstveröffentlichungen; Alfred Estermann ediert 700 Seiten Prosa aus dem Nachlass Wolfgang Koeppens; ein autobiographischer Roman von Peter Weiss aus dem Jahre 1956 erscheint als deutsche Erstveröffentlichung; von Niklas Luhmann komplettieren zwei neue Bände seinen großen systemtheoretischen Entwurf der Gesellschaft.

Der Suhrkamp Verlag war und ist praktizierte Demokratie; was wie ein geschlossenenes System anmutet, ist das Modell einer offenen Gesellschaft. Noch heute sind die gefragtesten Intellektuellen Suhrkamp-Autoren, allen voran vielleicht Hans Magnus Enzensberger und Ulrich Beck, der Herausgeber der "Edition Zweite Moderne". Natürlich ist der Konkurrenzdruck größer geworden, findet sich interessante Literatur auch anderswo. Wenn es stimmt, dass den Verlagen die Leser wegbrechen, so wird Suhrkamp davon nicht verschont bleiben. Aber zu behaupten, dass die Suhrkamp-Kultur ein Auslaufmodell sei, ist etwa gleichbedeutend mit der These, dass Niveau und Qualität, Substanz und Seriosität nicht mehr gefragt seien. Doch ebenso, wie es in Zukunft neben all dem Pop- und Quoten-Journalismus unserer Tage noch gute Feuilletons geben wird, wird es auch anspruchsvolle Verlage mit anspruchsvollen Programmen für anspruchsvolle Leser geben. Die hausgemachten Probleme,mit denen Fischer und Rowohlt jüngst in die Schlagzeilen gerieten, müssen Suhrkamp nicht in gleicher Weise tangieren.

Eine der größten editorischen und verlegerischen Leistungen des Verlages dürften die zwei Bände "Mikrogramme" aus dem Nachlass Robert Walsers darstellen, die nach 16 Jahren mühevoller Dechiffrierarbeit im September erscheinen sollen. Robert Walser hat für Siegfried Unseld besondere Bedeutung: Hermann Hesse, dem der Verlag so vieles verdankt, hat ihn auch auf Walser mit Nachdruck hingewiesen. Hesse hatte geschrieben, dass, wenn Walsers Werk in 100.000 Exemplaren verbreitet sei, die Welt besser würde. 1977 konnte Unseld, nach jahrelangen Verhandlungen, die Rechte am Werk endlich erwerben. Heute ist es beinahe in Millionenauflage verbreitet. Ist die Welt deshalb besser? Einer wenigstens ist mit ehrenwerten Zielen und Projekten und mit einem mehr als respektablen Programm glücklich geworden. Ein Glück für ihn wie für uns.