In Bildern denken

Antonia Wunderlich über die Ausstellung 'Les Immatériaux' von Jean-François Lyotard

Von Michael MayerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Mayer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielleicht gehört zu den kardinalen Schwächen einer ansonsten selbstbewusst auftrumpfenden Bildwissenschaft der bemerkenswerte Mangel an praktischer Erprobung ihrer intellektuellen Befunde. Was man einer altehrwürdigen und deshalb strukturell konservativen Disziplin wie der Philosophie (gewiss nicht zu unrecht) vorhalten kann, dass sie ein noch immer unkritisches Verhältnis zu Schrift und Sprache als einseitig privilegiertem Medium philosophischen Ausdrucks kultiviere, scheint verblüffenderweise auch für die akademische Praxis bild- und medienwissenschaftlicher Forschung zu gelten.

Noch immer sind es Texte und Vorträge, die Bilder zum Gegenstand analytischer Begriffsarbeit machen. Noch immer wird auf Tagungen und in voluminösen Anthologien über die Logik des Bildes diskutiert, ohne besagte Logik auf die Verfasstheit des universitären Jargons zurückzubeziehen. "Reflexion", nennt das die Philosophie, die Rückbeugung eines Gedankens auf sich selbst, wodurch sich - Hegel hat's meisterlich demonstriert - dessen Form und Inhalt radikal verändern. Könnte es also sein, dass die Medienblindheit der Philosophie ihr Pendant in der Philosophieblindheit der Bild- und Medienwissenschaft hat?

Angesichts der überbordenden Vielfalt an Forschung und Forschungsansätzen dieses Genres mag die Frage provokant anmuten, denn natürlich gibt es gegenläufige Tendenzen, gab es Ausnahmen. Die vielleicht prominenteste dabei ist Aby Warburgs (1866-1929) furioser Bilderatlas "Mnemosyne", bei dem nicht mehr Texte, sondern Bilder Bilder kommentieren, assoziieren und schließlich bis ins Unendliche spiegeln. Er liefert zugleich die Blaupause für das kulturwissenschaftliche Jahrhundert-Experiment, Bild und Denken sich unreglementiert wechselseitig aufeinanderbeziehen zu lassen. Und trügen die Zeichen nicht, arbeiten sich derzeit Medien-, Bild- und Kulturwissenschafter und -wissenschaftlerinnen tatsächlich an der Exemplarität (nicht nur) dieses Ernstfalls ab.

Und die Philosophie? Hier waren es meist nur die Dissidenten des Fachs, denen das Denken des Bildes zum Anlass wird, das Bild des Denkens in Revision zu schicken. Zum Kreis der üblichen Verdächtigen gehört hier zweifellos auch Jean-François Lyotard (1924-1998). Nicht nur sein erstes und noch immer nicht ins Deutsche übersetztes Hauptwerk "Discours, figure" (1971), das die im Titel durch das Komma angezeigte Differenz zwischen dem Diskursiven und dem Figurativen mit hoher Intensität umkreist, weist ihn früh schon als riskanten Denker aus. Aber erst vierzehn Jahre nach "Discours, figure" sollte Lyotard die Probe aufs Exempel machen. Zusammen mit Thierry Chaput kuratierte er im Pariser Centre Pompidou die Ausstellung "Les Immatériaux" (1985), bei der eine radikal neue Praxis philosophischen Denkens anvisiert werden sollte.

Das skizziert den Rahmen, innerhalb dessen Antonia Wunderlichs Studie über Lyotards "Les Immatériaux" zu verorten ist. Die Ausstellung, die immerhin um die Frage kreiste, wie sich durch den Einsatz neuer Technologien und ihrer "Immaterialien" die Beziehung zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden materiellen Welt verändern werde, wurde in der Forschung bislang eher stiefmütterlich behandelt. Was den Verdacht eines textzentristischen Vorurteils, das selbst noch die Rezeption Lyotards zu dominieren scheint, nur erhärtet und Wunderlichs Arbeit vorab den Reiz einer kritischen Revision verleiht.

Wenn das alles wäre. Die immens komplexe Szenografie der labyrinthartig verschlungenen und in fünf Parcours mit insgesamt 61 Stationen aufgebauten Ausstellung, die dem Besucher weder auditiv noch schriftlich eine Orientierung zu ihrer Erkundung lieferte, gerät der Autorin zum ausstellungstheoretischen Fallbeispiel. Ihrer Untersuchung liege die Diagnose zugrunde, "dass die grundsätzlich komplexe Aufgabe, über Ausstellungen zu scheiben, durch die Besonderheiten von "Les Immatériaux" zusätzlich verkompliziert wurde."

Was nicht nur eine detaillierte Anleitung zur Besprechung von Ausstellungen überhaupt in Aussicht stellt, sondern "Les Immatériaux" als Laboratorium einer Erfahrung vorstellt, die sich vier Jahre vor dem Zusammenbruch einer bipolar geprägten Weltordnung und der weltumspannenden Implementierung des Internets umrisshaft abzuzeichnen begann: die der Desorientierung.

Die aufreizende Verunsicherung des Publikums durch Lyotards Ausstellung, die sich noch in deren feuilletonistischer und akademischer Rezeption widerspiegelt, reflektierte so nur den Zustand eines Menschen, dem damals schon und heute mehr denn je seine elementaren Selbstverständlichkeiten abhanden zu gehen drohen. Dies nicht nur als Gefahr, sondern auch als Chance in den Blick zu nehmen, andere Weisen menschlichen Daseins auszutesten, war Lyotards Anliegen. Die Neuen Technologien in "Les Immatériaux" sind deshalb sowohl deren Thema als auch ihr herausragendes gestalterisches Mittel. Obschon Lyotard in seinem Spätwerk der Frage der Technik erheblich skeptischer gegenübertreten wird, war die Pariser Ausstellung ebenso einzigartig wie exemplarisch. Mit "Les Immatériaux" setzte Lyotard, so Antonia Wunderlich, "sein philosophisches Denken im wahrsten Sinne des Wortes in Szene." Und er setzte es in Szene, indem er sein Denken bildlich, ja, indem er es zum Bild werden ließ.

Dass Bilder uns durch ihre Komplexität, ihre Widersprüchlichkeit, ihre Uneindeutigkeit oft überfordern, provozieren oder resignieren lassen, ist der Praxis dieses Denkens nicht mehr Anlass, sie durch einen Akt hermeneutischer Willkür auf einen einheitlichen Sinnzusammenhang zu reduzieren. Es selbst bewegt sich in Figurationen, die disparate Elemente so miteinander verschränken, dass etwas Ungeplantes, völlig Unerwartetes dabei entstehen kann. Man muss es nur zulassen. Dieses Zulassenkönnen, die Empfänglichkeit für das Unverhoffte aber könnte jenes eigenartige "Vermögen" sein, das philosophisches wie künstlerisches Denken gleichermaßen auszeichnet. Und vielleicht beginnt sich an diesem Punkt eine Assoziation zwischen Philosophie und Kunst abzuzeichnen, die nicht mehr nur peripher wäre. Dass diese Allianz offenbar außerhalb einer akademisch disziplinierten Philosophie wie jenseits eines zunehmend kurzatmigen Kunstbetriebs erprobt werden muss, spricht keineswegs gegen sie.

Lyotard sagte das so: "Wenn man glaubt, Denken als Selektion aus 'gegebenen' Daten [...] beschreiben zu können, dann verschweigt man die Wahrheit: die Daten sind nicht 'gegeben', sondern können 'gegeben sein', und die Selektion vollzieht sich nicht als ein Wählen. Wie Schreiben und Malen ist Denken eigentlich nichts anderes als das Kommenlassen dessen, was gegeben sein kann."


Titelbild

Antonia Wunderlich: Der Philosoph im Museum. Die Ausstellung "Les Immatériaux" von Jean François Lyotard.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
262 Seiten, 28,80 EUR.
ISBN-13: 9783899429374

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