Von biblischen Stimmen und Figuren, Lektüren und Kulturen

Eine von Hans-Peter Schmidt und Daniel Weidner herausgegebene Anthologie gibt einen Überblick über die angloamerikanische Debatte über die "Bibel als Literatur"

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vorliegende Aufsatzsammlung vereint, so verrät schon der Klappentext, "erstmals in deutscher Übersetzung klassische Beiträge aus der dynamischen Debatte über Bible as Literature". Gemeint ist die angloamerikanische Debatte, die seit den 1970er-Jahren vor allem in Amerika, England und Israel eine literaturwissenschaftliche Forschung über die Bibel hervorgebracht hat. Gedanklicher Ausgangspunkt war und ist die Überzeugung, dass es für ein echtes Verstehen der biblischen Geschichten nicht ausreicht, "zu wiederholen, was sie sagen oder was man über sie weiß, man muss auch beschreiben, wie sie sagen, was sie sagen: man muss lesen können". Und "die klassischen Fähigkeiten des Lesens" seien notwendig, "um die spannungsreichen und komplexen Urszenen europäischer Tradition besser zu begreifen".

Der Begriff der Urszene meint dabei im Sinne Freuds eine spannungsreiche Konstellation, in der die verschiedenen Protagonisten versammelt sind. Diese Urszenen wiederum enthalten nicht nur äußerst wichtige Aussagen zu zentralen kulturgeschichtlichen Fragestellungen wie Moral und Schuld oder Wissen und Unwissenheit, sondern behandeln diese Themen auch auf höchst komplexe Weise, was das tiefere und detaillierte Verständnis dieser Urszenen so besonders wichtig macht. Es geht also um die Analyse und die Sichtbarmachung des literarischen Charakters biblischer Textpassagen.

Angestoßen haben dies einige Literaturwissenschaftler, die sich eigentlich der modernen Literatur verschrieben hatten. Auf die Bibel hingewiesen wurden sie gerade durch deren Charakter eines aus verschiedenen Büchern und Teilen daraus zusammengesetzten Buches mit den entsprechenden Wiederholungen, Inkohärenzen und Brüchen - Phänomene, die auch in vielen Werken der modernen Literatur wiederzufinden sind.

Nach einigen vorbereitenden Ansätzen begann diese Debatte mit einem zweifachen Impuls: dem Strukturalismus und der durch ihn angestoßenen Methodendiskussion einerseits und andererseits mit dem Formalismus in der Poetik, vor allem in der angloamerikanischen Tradition des New Criticism. Diese beiden Impulse führten in den 1980er-Jahren zur Narratologie, die alle möglichen Arten von Texten als 'Erzählungen' lesbar macht. Angereichert mit weiteren literaturwissenschaftlichen Methoden und Paradigmen, vor allem aus der Genderforschung und der Rezeptionsästhetik, ist die Debatte um die Bible as Literature im angloamerikanischen Raum in der Zwischenzeit zu einer eigenständigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Strömung geworden, die mit eigenen Institutionen, Studiengängen, Zeitschriften und Buchreihen aufwarten kann. Von den wegweisenden und deshalb inzwischen klassischen Texten dieser Debatte präsentiert die Sammlung eine repräsentative Auswahl. Zwar erfährt man vorab nichts über die Kriterien dieser Auswahl, doch dafür ist jedem Text eine ausführliche Einleitung vorangestellt, in der die wichtigsten Hintergrundinformationen zusammengetragen sind.

In fünf Themenkreisen sind die Aufsätze zusammengefasst, die in die zentralen Aspekte der Debatte einführen sollen. Da geht es um Techniken der Wissensvermittlung in Erzähltexten, um Figurenkonstellationen und Erzähler- und Figurenrede, um Formen und Stile, um die Beziehungen zu anderen Literaturen und um die Wechselwirkung biblischer Texte mit anderen Lektüren. Ergänzt wird diese Sammlung von einem einleitenden und einem abschließenden Herausgebertext, einer Auswahlbibliografie und einem kurzen Quellenverzeichnis, das aber lediglich die einzelnen Aufsätze bibliografiert.

So grundlegend und interessant die Bibel aus literaturwissenschaftlicher Sicht auch ist und so spannend sich die in dieser Anthologie ausgewählten Texte in ihren thematischen Kontexten auch entfalten - zwei wesentliche Unterschiede zwischen dem biblischen und jedem literarischen Text bleiben: Die Bibel in ihrer Gesamtheit ist, trotz aller Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten, kein fiktionaler Text und sie ist auch nicht als ein Text konzipiert, sondern ein von zumeist unbekannten Händen gefertigter Fleckerlteppich vieler Texte und Textfragmente aus den verschiedensten Zeiten und unterschiedlichster Provenienz.

In diesem Sinne - und dabei völlig wertfrei - ist auch der Begriff einer Bible as Literature beziehungsweise 'Bibel als Literatur' zu verstehen: man tut so, als sei die Bibel Literatur. Dabei ist zwar der literarische Charakter einzelner Bibelpassagen und -texte unstrittig, doch die grundsätzliche Frage nach der Literarizität der Bibel muss per definitionem einhergehen mit der Frage nach dem Wesen Gottes - und dies wiederum ist eine ganz andere Geschichte.


Titelbild

Hans-Peter Schmidt / Daniel Weidner (Hg.): Bibel als Literatur.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
352 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783770545605

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