Das mysteriöse Salinger-Enigma

JD Salinger, mit dem 1951 veröffentlichten Roman "Der Fänger im Roggen" weltberühmt geworden, wurde 90 Jahre alt

Von Peter MünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Münder

Der britische Publizist Ian Hamilton, ein dezidierter Salinger-Verehrer, war entsetzt. Er wollte ein Buch über dessen Leben und Werk veröffentlichen, hatte dem in Cornish, New Hampshire hinter einem zwei Meter hohen Zaun äußerst isoliert lebenden Bestseller-Autor einen Brief mit einigen Fragen geschrieben und erwartete eine wohlwollende Antwort nebst Vorschlag für einen anvisiertem Besuchstermin.

Stattdessen wurde er von Salinger mit Drohungen, Verboten und Gerichtsprozessen überzogen. Und das nur, weil Hamilton beabsichtigte, aus Salingers Briefen zu zitieren, die ihm von Dritten zugänglich gemacht worden waren. War das wirklich derselbe Autor, der sich aus der Perspektive seines 16jährigen Romanhelden Holden Caulfield im "Fänger im Roggen" (1951) über "Phonies" und bornierte erwachsene Dumpfbacken aufgeregt hatte, die rechthaberisch und fantasielos ihr Leben verplemperten und nur auf ihren Vorteil bedacht waren? Ging es hier nicht um hehre Literatur und um einen kreativen Gegenentwurf zur amerikanischen Krankheit, der unersättlichen Profitgier?

In seinem 1988 veröffentlichten Buch "In Search of Salinger" ist Hamilton fast auf jeder Seite seine große Enttäuschung über den berühmten Bestsellerautor anzumerken - man wundert sich allerdings auch über die grenzenlose Naivität (oder den Größenwahn) dieses Pseudo-Biografen, der offenbar nicht akzeptieren wollte, dass Salingers seit vielen Jahren geäußerter Wunsch nach einer privaten, von Lesern und sensationslüsternen Medien respektierten Schutzzone tatsächlich ernst gemeint war.

Widersprüche und heftige Kontroversen begleiteten diesen Autor, der am 1. Januar 1919 in New York als Sohn des wohlhabenden Lebensmittelimporteurs Sol Salinger geboren wurde, schon nach seinen ersten publizierten Kurzgeschichten "The Young Folks" (1940) und "A Perfect Day for Bananafish" (1948). Wieso gibt sich Seymour Glass plötzlich in seinem Hotelzimmer die Kugel, nachdem er kurz zuvor noch so liebevoll und unbeschwert mit der kleinen Sybil am Strand gespielt und ihr die wunderbare Geschichte vom Bananenfisch erzählt hatte, der eingeklemmt in einer Höhle steckt, aus der er sich nicht mehr befreien kann? Und warum reagiert dieser offenbar so sensible Seymour plötzlich völlig überdreht und aggressiv auf eine Frau im Fahrstuhl, die nur verlegen auf seine Füße starrt? War Seymour vielleicht pädophil? War er verhaltensgestört? Und was sagte dies über den Autor aus?

Den "Fänger im Roggen" setzte man bei vielen amerikanischen Bibliotheken und öffentlichen Einrichtungen gleich nach seinem Erscheinen 1951 auf den Index: Den 255mal geäußerten Fluch "Goddam" wollte man ebenso wenig tolerieren wie das 44mal erwähnte "Fuck". Dabei hatten die Moralapostel offenbar völlig übersehen, dass sich Holden Caulfield gerade über all die idiotischen Schmierfinken aufregte, die "Fuck" in New York an jede zweite Ecke geschmiert hatten. Selbst der sonst so tolerante Kulturphilosoph George Steiner erregte sich in seinem Salinger-Essay über diese Invektiven; ihm passte offenbar weder der Kultstatus des Autors noch die Sichtweise des jugendlichen Helden, den er für ziemlich unbedarft hielt. Und der ungeheure Medienrummel der "Salinger industry" war ihm sowieso äußerst suspekt. Wahrscheinlich revoltierte der Bildungsbürger und Philosoph Steiner schon nach dem ersten Satz des Ich-Erzählers Holden. Denn den "üblichen David-Copperfield-Mist" in chronologischer Reihenfolge hübsch säuberlich aufzulisten, widerstrebt Holden total. Er vertraut lieber seinem Sponti-Gefühl und seinen Assoziationen. Bis heute werden übrigens noch jährlich rund 300.000 Exemplare des Buches verkauft.

Zehn Jahre nach dem "Fänger im Roggen" erschien "Franny and Zooey", in denen die skurrilen Aktivitäten der Glass-Family beschrieben werden, 1963 dann "Raise High The Roofbeam, Carpenters" sowie "Seymour: An Introduction". Der "New Yorker" veröffentlichte 1965 Salingers letzte, immer noch heftig diskutierte Short Story "Hapworth 16, 1924". Seitdem hat Salinger nichts mehr publiziert. Kein Wunder also, dass die "New York Times" anlässlich von Salingers 90. Geburtstag fragte: "Was hat Salinger eigentlich in den letzten vierzig Jahren" gemacht? "Er schreibt immer noch jeden Tag, allerdings nur für sich selbst und schließt seine Werke abends im Safe ein", enthüllte die umstrittene Bewunderin und vorübergehende Salinger-Partnerin Joyce Maynard schon vor zwanzig Jahren in ihrem kontroversen Buch "At Home in the World".

Salingers umfangreiche Notizbücher über die Glass-Family würden den Stoff für mindestens zwei weitere Romane liefern, hatte sie damals prophezeit. Maynard war als 18jährige Studentin mit einem Bericht über das Lebensgefühl der US-Jugend ("An 18-Year-Old Looks Back on Life") bekannt geworden und wurde daraufhin von Salinger kontaktiert. Sie brach ihr Studium in Yale ab, um mit dem Kultautor zusammenzuleben, spürte jedoch, dass sie zu stark auf den dominanten Promi-Autor fixiert war und zum willenlosen Groupie mutierte. Sie durfte nur vegetarische Kost zu sich nehmen, musste sich regelmäßig wie eine Bulimie-Kranke erbrechen und fand die von Salinger praktizierte Urin-Therapie auch nicht allzu überzeugend. So trennten sich beide nach einem Jahr. Joyce Maynard hatte von Salinger zwar Dutzende von Briefen erhalten, sie durfte jedoch auch nicht aus ihnen zitieren, was sie völlig akzeptierte: "Die Briefe gehören zwar mir, es sind jedoch seine brillanten Formulierungen".

Frühreife Genies wie Seymour Glass, sensible Außenseiter mit Schulproblemen und traumatisierte Kriegsveteranen: In diese Figuren hat Salinger offensichtlich eigene Sichtweisen und Erfahrungen projiziert - der autobiografhische Aspekt seiner Erzählungen ist jedenfalls unübersehbar. Salinger war als US-Soldat an der Invasion in der Normandie eingesetzt, er nahm an der Ardennenoffensive teil und war auch als Geheimdienstler beim CIC tätig. Offenbar erlitt er während dieser Kriegseinsätze einen Nervenzusammenbruch und begab sich in eine Therapie. Doch genauere Details hierzu gibt es nicht. Ian Hamiltons Anmerkungen zu Salingers Kriegserfahrungen müssen daher ebenso als Spekulationen betrachtet werden wie seine pseudo-realistischen Angaben über ein Treffen des Autors mit Ernest Hemingway. Beide sollen sich nach der Befreiung in Paris getroffen haben, wo Hemingway dann angesichts des großen literarischen Talents des jungen Kollegen Salinger ins Schwärmen geraten sein soll. Begann hier wirklich die eigentlich literarische Karriere des jungen Schreibers Salinger, wie Hamilton suggeriert?

Jedenfalls haben die Salinger-Dechiffrierer mit "Hapworth", das immer noch nicht in Buchform erschienen ist, wohl immer noch genügend Stoff, um hieraus den Honig für autobiografische Aspekte im Werk des enigmatischen Außenseiters zu saugen. Denn der 7jährige frühreife Seymour, der hier in Briefform seine Ansichten und altklugen Sentenzen zum Besten gibt, ist eine geradezu aberwitzige, widersprüchliche und unglaubwürdige Figur. Er spricht bereits mehrere Sprachen, er ergeht sich in pädagogischen und kulturkritischen Fachsimpeleien und Ermahnungen gegenüber den Geschwistern. Lüstern begehrt er die Frau des Summercamp-Besitzers, in seiner Lektüreliste, die er nach Hause schickt, finden sich die Werke von Charles Dickens, Leo Tolstoi, Marcel Proust (natürlich im Original) und Johann Wolfgang Goethe. Wollte der gefrustetet Autor Salinger vielleicht eine neue Karriere als Bildungspolitiker anvisieren? Der "Hapworth"-Seymour ist übrigens derselbe Seymour Glass, der sich im "Perfekt Day for Bananafish" die Kugel gibt.

Die Rätsel, die Salinger seinen Lesern mit seinen Figuren aufgibt, lassen sich trotz diverser Ungereimtheiten und Widersprüche vielleicht doch auf das im "Fänger" thematisierte Leitmotiv reduzieren: Wie kann man ein Leben in Harmonie mit der Umwelt verwirklichen? Hat ein ästhetisch-moralisches Ideal in der gegenwärtigen verlogenen materialistischen Welt eine Überlebenschance? Und gibt es überhaupt noch ein Publikum, das sich angesichts der medialen Verdummungsorgien noch für Literatur abseits des Mainstream interessiert? Für eingefleischte Salingerologen verbirgt sich hinter diesen Ansprüchen der Zen-Buddhismus als eigentliche Weltanschauung des Eremiten aus New Hampshire. Wie auch immer - das Salinger-Enigma kann Leser und Kritiker jedenfalls noch lange beschäftigen. Und eine Wiederbegegnung mit Holden Caulfield zeigt auf beeindruckende Weise, wie aktuell, einfühlsam und prophetisch dieser Roman immer noch ist.

Der in dritter Ehe verheiratete Salinger hat einen Sohn und eine Tochter. Auch diese Tochter Peggy, wir ahnen es bereits, hatte bei der Veröffentlichung ihrer Abenteuer mit dem berühmten Vater Probleme mit ihrem Text, den sie nach Daddys juristischen Interventionen ändern und überarbeiten musste.