Voller Schönheit, voller Ödnis

Das Partikular von Botho Strauß lohnt die Lektüre nicht

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Prosa von Botho Strauß ist rätselhaft, voller Schönheit und voller Ödnis. Sie wird gern in die Tradition der großen Aphoristiker gestellt und sieht sich wohl auch selbst eher im Umkreis des Athenaeums und der Propyläen als in heutiger ästhetischer und politischer Zeitgenossenschaft. Und dennoch wäre die Prosa von Botho Strauß vor zweihundert Jahren nicht denkbar gewesen: "Die Frau auf der Uferböschung mit dem Rücken zur Schnellstraße. Im Streiflicht der Scheinwerfer sah man für den Bruchteil der Sekunde, daß sie ihr Schultertuch ein wenig zurücksetzte, es straffte, den weißen Nacken hob, als wolle sie den Entschluß, den sie bereits ausgeführt hatte, noch einmal fassen oder als zucke ihr der plötzliche Entschluß noch einmal über den Rücken, nachdem sie bereits vollendete Tatsachen geschaffen hatte, endgültig fertig war mit der Sache, ausgestiegen, abgedreht, allein zurückgeblieben am Rande der Schnellstraße, noch einmal bereit, dasselbe zu tun."

Mag auch die Rechtschreibung noch die alte sein, das erste Bild von "Partikular" ist ganz und gar heutig. Die Gedanken, die sich eine nicht näher spezifizierte Erzählinstanz über die Frau und ihre Beweggründe macht, sie sind ebenfalls ganz und gar heutig. Sie sind nicht zwingend, eine Idee nur, eine Möglichkeit, aber sie sind denkbar nur zu unserer Zeit, wo eine Frau einfach aussteigen kann aus einer Beziehung, einem bisherigen Leben, ohne von der Gesellschaft oder von der meist grausameren Literatur dafür bestraft zu werden - mit Selbstverlust im Wahnsinn, Tod oder metaphorischem Tod im Kloster, wie es früher in der Literatur noch üblich war.

Die Prosaarbeiten von Botho Strauß sind wie Galerien statischer oder bewegter Bilder konzipiert, wie eine Folge von Prosa-Vignetten, die einen auf den ersten Blick nur losen Zusammenhang stiften. Aber die Figuren in den Texten nutzen sie, um sie mit ihren eigenen Erfahrungen abzugleichen, etwa um anhand des mutigen Schritts jener Frau am Straßenrand, die vielleicht nur ausgesetzt wurde wie ein lästiger Hund vor der Urlaubsreise, über den eigenen Bewegungsspielraum nachzudenken. Dahinter steht eine bestimmte Ästhetik als eine Wahrnehmungskategorie der Welt, die die Projektion genauso wichtig nimmt wie den bloßen Augenschein.

Ästhetisierung lautet der Vorwurf, der dieser Literatur gemacht wird, Anmut und Grazie sprechen aus den Bildern, wo das soziale Gewissen sich regen müßte: "bescheiden, leicht den Kopf zur Seite geneigt, die Hand geöffnet wie eine Bettlerin, die offene Hand liegt auf dem Stuhl neben ihr, abgelegt auf dem freien Stuhl, sich ausweisende Innenfläche mit ausgestreckten Fingern, Angebot an eine andere Hand."

Man denkt an Kleist vielleicht, an den Dornauszieher, an die Marionette, an den Punkt, der aus dem Zentrum der Bewegung hinausverlegt wird in das reflektierende Bewußtsein des Betrachters - und Lesers. Die Figuren, die Botho Strauß entwirft, ruhen nicht in sich, ihnen fehlt der optimale Zeitbezug, sie kommen nicht zurecht mit der Schnelligkeit, in der heute Wahrnehmungsdaten verarbeitet werden müssen, sie hängen ewig zurück - halbwach, gedankenverloren, übermüdet - und selbstvergessen.

Jedes Bild, das Strauß entwirft, wirkt wie mit Mythologie beschwert, doppelt und dreifach mit Bedeutung aufgeladen, und wehe dem Leser, der die ausgelegten Spuren nicht sieht! Da ist eine Frau, die mit prallen Einkaufsbeuteln schwer bepackt die Stufen des Treppenaufgangs erklimmt und - wie Sisyphos - unsanft zurückgeschickt wird, die sofort einen erneuten Versuch unternimmt, die "auch ein fünftes Mal ohne jede Erfahrung des Erlebten" nach oben stürmt. Ein Beispiel für die Kunst des Botho Strauß, einen mythologischen Stoff im Bilde einer modernen Zwangshandlung neu zu erfinden, eine Gabe, um die ihn viele Theaterautoren beneiden dürften.

Doch zwischen diesen grünen Inseln, diesen Glücksmomenten des Partikularen, herrscht Ödnis, herrscht orientierungs- und zusammenhanglose Prosa-Steppe, ein dumpfes Stimmengemurmel (mindestens) dreier Erzähler und eines Beobachters, die eine seltsame, nie erklärte Begrifflichkeit entfalten, um ihre Figuren zu charakterisieren. Da werden zwei "Verkehrer" eingeführt, boshaft wie Satan und trunken vom "Duft der Schrift"; da wird ein Paar als "Alliierte" vorgestellt, vermutlich ein feindliches Wort für den Rechtsintellektuellen Botho Strauß; da werden pausenlos Beobachtungen gemacht und wieder infrage gestellt; da werden laufend Erwartungen erst geweckt, dann enttäuscht; da wird ein negativer Assoziationsraum gestiftet, der nur eine Frage zulässt, nämlich welche Konzeption von Realität hier denn entworfen werden solle. Unter dem Titel "Hüte die Fährte" schleust der Autor ein langes Dialog-Gedicht ein, eine ungelenke, statisch und dunkel wirkende Rede, die zum Wahrspruch und - wie ich fürchte - leider auch zum Unsinn tendiert: "Das Paradies der Verbote, / dem wir die Exerzitien unserer Lust verdanken, / ein Zimmer Licht, / wenn alle Türen offenstehen / und Diebe göttliche Ziegen ins Haus treiben. / Ein Ort der Lüste - eine zeitlose Luftspiegelung, / die allmählich mit dem heraufziehenden Schimmer / unseres Todes verschmilzt."

Eine göttliche Ziege demjenigen, der ein Zimmer Licht in dieses dunkle Kapitel zu bringen vermag, der Zusammenhang stiftet zwischen dem allzu beliebigen Stimmengewirr dieser opaken Redeformen, deren Glücksgriffe selten sind und den mühsamen Weg durch weite, sandige Strecken einfach nicht lohnen.

Titelbild

Botho Strauß: Das Partikular.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
200 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3446198865

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