"Kritik ist überall, zumal in Deutschland nötig"

Ein "Essigs Essenzen spezial" zum zehnjährigen Bestehen des Forums literaturkritik.de

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anmerkung der Redaktion: Rolf-Bernhard Essig, seit 1999 mit über 120 Beiträgen Autor bei literaturkritik.de, informierte 2008 die Hörer des Deutschlandfunks in der Sendung "Essigs Essenzen - Was Sie schon immer über Sprichwörter und Redensarten wissen wollten" Woche für Woche kenntnisreich über etwas, was jedem irgendwie vertraut ist, aber keiner so vergnüglich erklären kann wie er. Er tat dies auch als Autor des 2007 erschienenen Buches "Wie die Kuh aufs Eis kam. Wundersames aus der Welt der Worte". Im März kommt der Nachfolgeband: "Warum die Schweine pfeifen. Wundersames aus der Welt der Worte" heraus. Zu unserem 10. Geburtstag hat Essig uns mit der Zusendung einer Spezialanfertigung seiner Essenzen überrascht.

Vor zehn Jahren, ich gestehe, war mir das Internet, ja sogar die E-Mail ein Buch mit sieben Siegeln. Wie dem Apokalyptiker Johannes im letzten Buch der Bibel erschien mir damit etwas so Geheimnis- wie Verheißungsvolles. Nur sah Johannes in seiner Vision immerhin etwas ihm Bekanntes - ein Buch eben, das siebenfach mit Siegeln verschlossen war. Was drinsteht? Da kann ich nur auf die Lebenserinnerungen des Kirchenvaters Augustinus verweisen, dem eine Stimme sagte: "Tolle, lege!" Das heißt: "Nimm, lies!"

Das Buch, das Augustinus vor sich fand, war übrigens Bertolt Brechts Lieblingsbuch, die Bibel. Nun war Brecht wiederum ein Mann, wie er im Buche steht. Und dieser Ausdruck bedeutet nichts anderes, als dass jemand so vorbildlich lebt, wie es die Männer im Buch der Bücher, also in der Bibel taten.

Vorbildlichkeit kann Brecht in einem Punkt ohne Frage zugesprochen werden: Er war ein kritischer Geist, der gern wider den Stachel löckte. Die Ochsen Alltag und Konvention laufen ja immer im gleichen Trott, weil sie ein Brett vor dem Kopf haben, das sie an der Umsicht hindert, doch so ein Brecht im Geschirr wehrt sich und zeigt sich bockig, bäumt sich auf gegen den Stachel, mit dem ihn der Treiber antreibt. Nichts anderes bedeutet die löckende Bibelredensart in Martin Luthers Übersetzung. Der Kritiker Brecht imponierte mir in seiner Freiheit noch mehr als Karl Kraus und Alfred Kerr. Die tendierten ein wenig zu sehr dazu, den Autoren und dem Publikum die Leviten zu lesen. Nun ist das dritte Buch Moses mit Namen "Leviticus" eines der langweiligsten, das man schon kaum selbst lesen möchte. Und dann noch vorgelesen bekommen ... Hm.

Die Sache wurde nur sprichwörtlich, weil im Jahre 760 der Bischof Chrodegang von Metz den geistlichen Stand, dessen Zustand er beklagenswert fand, bessern wollte, indem er ihn auf einen Kanon von Vorschriften festlegte. Deshalb spricht man übrigens auch bei Geistlichen von Kanonikern. Allerlei Tätigkeiten im Tagesablauf schrieb der Seelenhirte nun vor, zu denen auch Buß- und Betandachten gehörten. Bei dieser Gelegenheit las man ihnen - der Bischof selbst oder einer seiner Stellvertreter - Abschnitte aus der Bibel vor, insonderheit aus dem Buch "Leviticus". Aus diesem Grunde konnte sich die Bedeutung einer Strafrede und Ermahnung herausbilden. Für einen Kritiker ist das eher eine lächerliche Haltung, finde ich.

Vor zehn Jahren war ich mir da noch nicht so sicher, weil ich gerade erst begann, als Kritiker zu leben. Dafür bot sich literaturkritik.de als die ideale Spielwiese an - ohne Umfangsbeschränkung, ohne Vorgaben, ohne Geld: die vollkommene Freiheit. Man konnte nicht einmal lügen wie gedruckt im Internet.

Dasselbe Misstrauen, das dem Buchdruck in seiner Frühzeit entgegenschlug, betraf allerdings auch das elektronische Medium. Gerade die Buchbranche und die Journalistenzunft fanden anfangs - und dem kann man nicht recht widersprechen - viel Hanebüchenes auf den Schirmen. Das Holz der Hagebuche ist derb und kräftig, schwer zu bearbeiten, weshalb aus dem Wort "hagenbüechin", das "aus dem Holz der Hagebuche" oder "aus Hagebuche" bedeutet, in dem Zusammenhang mit "Unsinn" eine Redensart werden konnte für einen kräftigen, derben, besonders groben Unfug. Von hierher entwickelte sich der Sinn weiter zu "unglaublich" und "unerhört".

Unerhört war für mich, dass ich - gerade noch ein akademisches Treibhausgewächs - plötzlich bei einem so modern vielversprechenden Projekt wie literaturkritik.de mittun durfte, noch dazu als Literaturkritiker, dessen Stellung, Fertigkeiten und Pflichten mir Gotthold Ephraim Lessing ideal verkörperte. Als Zwerg auf der Schulter eines Riesen hat man gute Fernsicht. Man muss aber, was ich nicht bin, schwindelfrei sein.

Zehn Jahre und gut tausend Artikel später habe ich mich zumindest oft genug auf meine vier Buchstaben gesetzt, um mit Fleiß wettzumachen, was mir an Genie mangelt. Ich lebe sogar davon. Also vom Popo. Denn das steckt, wie schon die Kinder wissen, hinter den vier Buchstaben. Und doch verbirgt sich dahinter mehr. In sehr vielen Sprachen gibt es nämlich den Ausdruck ebenfalls. Im Spanischen meint man damit "puta", was "Hure" heißt und ein Fluch ist, im Polnischen "dupa", was "Arsch" heißt und ebenfalls ein Fluch ist. Im Englischen bedeutet der Ausdruck "four letter word" einfach "obszönes Wort", "verbotenes Wort". Kinder werden angehalten, diese bösen Vierbuchstabenwörter nie zu verwenden, also "shit", "cock", "cunt", "arse", "dick", "fuck" et cetera. Nur wenn man das weiß, versteht man die doppelte Bedeutung des berühmten Bob-Dylan-Joan-Baez-Songs "Love is just a four letter word". Und dann gibt es noch das berühmte Tetralemma im Hebräischen: den vierbuchstabigen Namen Gottes, den man nicht unnütz verwenden solle, weshalb ich ihn hier vermeide. Ein Tabu eben - wie die unanständigen Vierbuchstäbler.

Zu den Tabus gehört es, bei Glückwünschen manchmal Schlechtes zu wünschen: "Hals- und Beinbruch!" "Mast- und Schotbruch!" Alte Dämonenfurcht begründet diese Gewohnheit. Man vermeidet gute Wünsche, weil sie den Neid oder Zorn der bösen Geister heraufbeschwören könnten. In diesem Sinne wünsche ich literaturkritik.de Server- und Stromausfall, Systemabsturz und Viren vom Feinsten, unfähige Mitarbeiter und kritiklosen Akklamismus; zumindest für die nächsten zehn Jahre!


Titelbild

Rolf-Bernhard Essig: Wie die Kuh aufs Eis kam. Wundersames aus der Welt der Worte.
Gustav Kiepenheuer Verlag, Berlin 2007.
160 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783378010888

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Titelbild

Rolf-Bernhard Essig: Warum die Schweine pfeifen. Wundersames aus der Welt der Worte.
Gustav Kiepenheuer Verlag, Berlin 2009.
160 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783378011014

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