Literaturwissenschaft und Moderne

Petra Boden und Dorothea Böck erkunden das wissenschaftspolitische Vermächtnis des Zentralinstitutes für Literaturgeschichte der DDR

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das 1969 gegründete Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL) entstand im Zuge der Reform der Akademie der Wissenschaften und verdankt sich dem gesamtgesellschaftlichen Innovationsdruck, der - in Ost- ebenso wie in Westeuropa - auf den Bildungseinrichtungen lastete. Das Forschungsinstitut, das mit Lehre an den Universitäten nicht konfrontiert war, sollte "zum führenden Zentrum für Literaturgeschichte und Literaturtheorie marxistischer Art" entwickelt werden. Hier entstanden interdisziplinär und jenseits des materialen und methodischen Kanons der einzelnen Philologien gemeinsame Forschungsinteressen und Forschungslinien, die sich in - mitunter Aufsehen erregenden - Publikationen wie "Gesellschaft - Literatur - Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht" (1973) oder "Literarische Widerspiegelung. Geschichtliche und theoretische Dimensionen eines Problems" (1981) niederschlugen.

Mitte der 1970er-Jahre, erinnern sich die Herausgeberinnen, wehte am ZIL "noch der frische Wind von Experiment und Innovation" - es vollzog sich, ganz analog zur Entwicklung in der Bundesrepublik, die Wende von einer "form- zu einer sozialgeschichtlichen Orientierung". Dieser methodischen Modernisierung entsprach der Übergang von einer produktions- zu einer rezeptionsästhetischen Perspektive, doch gelang es hier nicht, auch die Autoren der Klassischen Moderne entsprechend ihres Ranges einzubeziehen und zu würdigen. Schon die Kafka-Konferenz im tschechischen Liblice (1963) hatte ergeben, dass dessen Konzept der "Entfremdung" nicht mit der "sozialistischen Realität" vereinbar sei - folglich müsse sein Werk für die literarische Öffentlichkeit der DDR unverständlich sein und belanglos bleiben. Das Begehren der ostdeutschen Verlage, ihn und andere bedeutende Autoren der Moderne dennoch zu verlegen, war damit zum Scheitern verurteilt.

"Der Erfolg", so Werner Mittenzwei als erster Direktor des Institutes, "konnte nur durch Bücher herbeigeführt werden, die in der Öffentlichkeit Beachtung fanden". Und die Resonanz war mitunter enorm: Der Band "Literarische Widerspiegelung" etwa, prominent bei Aufbau mit 3.000 Exemplaren aufgelegt, war Mitte 1983 auf einen Lagerbestand von 784 Exemplaren geschmolzen und Ende 1986 mit 32 Exemplaren so gut wie vergriffen. Höchst respektabel also für ein anspruchsvolles Werk wie dieses, das einen vergleichsweise offenen und innovativen Theoriediskurs pflegte. Jedoch: Die Trennung von Akademie und Universität, das Konzept also, geisteswissenschaftliche Forschung außeruniversitär zu betreiben und damit von der Lehre abzukoppeln, überstand das Ende der DDR nicht - das ZIL wurde mit dem Ausklang des Jahres 1991 abgewickelt, einzelne, positiv evaluierte Arbeitsbereiche wurden ausgegliedert und unter neuen Projektnamen weitergeführt.

Die Publikation von Petra Boden und Dorothea Böck reiht sich ein in die vergleichende germanistische Fachgeschichtsforschung, die unter Beteiligung von Zeitzeugen versucht, persönliche Karrieren und transpersonale Strukturentwicklungen in den Wissenschaften zum Sprechen zu bringen. In den Interviews kommen neben Mittenzwei der Romanist Manfred Naumann, der Germanist Hans Kaufmann, der Übersetzer Fritz Mierau, der Slawist Klaus Städtke sowie Dieter und Silvia Schlenstedt zu Wort. Verschiedene Dokumente aus den einzelnen Philologien und der Akademie der Wissenschaften (Arbeits- und Forschungspläne, Organisationspapiere und amtliche Anweisungen) bilden die Quellen dieses mit Personregister vorzüglich ausgestatteten Bandes - als Bausteine und Skizzen einer künftigen Geschichte des Zentralinstitutes für Literaturgeschichte.


Titelbild

Petra Boden / Dorothea Böck (Hg.): Modernisierung ohne Moderne. Das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (1969-1991).
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2004.
390 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-10: 3825316777

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