Das Glück des Voyeurs

Jens Wonnebergers neuer Roman "Gegenüber brennt noch Licht"

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Glück des Voyeurs liegt in der Distanz zu den Dingen, die um ihn herum geschehen. Im Verborgenen kann er ihnen folgen, ohne in sie hineingezogen zu werden. Das aber ist zugleich sein größtes Unglück. Er nimmt Anteil und ist doch außen vor. Er vergrößert kraft seiner Fantasie die Ausschnitte des anderen Daseins zu einer ganzen Biografie, konstruiert aus einem Detail die Totale, und bleibt doch immer nur ein Zaungast des fremden Lebens. Er würde gerne eingreifen und imaginiert sich das Dasein der Anderen in schillernden Farben, um der eigenen Langeweile zu entrinnen. Er spinnt sich etwas zusammen, einen Kriminalfall wie James Stewart in Alfred Hitchcocks "Rear Window" oder ein großes Gesellschaftspanorama wie E.T.A Hoffmanns Vetter am Eckfenster. Der Beobachtende verharrt in geschützter Position und weiß um seine Einsamkeit. Wie ein Autor protokolliert er, was vor seiner Haustür passiert, und verwandelt die Welt so in eine Theaterbühne.

"Das Wenige, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, habe ich an meinem Fenster erlebt", sagt Herr Plaschinski. Andreas Plaschinski ist Beamter bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und heimlicher Gast in den Wohnungen seiner Nachbarn. Abends zieht er sich in die Dunkelheit seiner Küche zurück und beobachtet, welche Schauspiele sich in den erleuchteten Fenstern der anderen Häuser ereignen. Wenn er seinen Kollegen erzählt, er besuche abends das Theater, so ist das kaum geschwindelt.

Eine der Observierten nennt er "die Unregelmäßige", ihr Tagesablauf verrät keine Struktur. Manchmal hetzt sie in größter Eile aus ihrer Wohnung, dann liest sie morgens in aller Ruhe die Zeitung - Plaschinskis Urteile fallen streng aus: "diese Schlampe kennt keine Ordnung". Wo keine Ordnung ist, lässt sich auch schwer ein System erkennen, und das braucht einer wie Plaschinski. Zwei junge Männer "aus der Wohnung unten rechts" geben ebenfalls Rätsel auf: Handelt es sich um Studenten oder Börsenspekulanten? Seit Wochen sitzen sie Rücken an Rücken vor ihren Computern, "deren bläuliches Licht das Profil ihrer Gesichter wie mit Wachs überzogen erscheinen lässt". Plaschinski verlässt seinen neutralen Beobachtungsposten, wenn er den Nachbarn in Gedanken eine Biografie auf den Leib schneidert. Zuweilen lässt er sich sogar dazu hinreißen, seine Fiktionen mit den Daten im Dienststellencomputer abzugleichen - und meist gibt es nicht die geringste Übereinstimmung zwischen Erdachtem und Herausgefundenem. Einmal vermutet er, "dass all meine Vorstellungen vielleicht gar nicht meiner Phantasie entsprungen, sondern immer nur ein fader Abklatsch von in Filmen gesehenen oder in Romanen gelesenen Möglichkeiten einer Fortsetzung gewesen sein könnten. Vielleicht ist diese ganze sogenannte Phantasie, vielleicht ist sogar das Leben selbst nichts als ein billiges Plagiat."

"Gegenüber brennt noch Licht" heißt der neue Roman des in Dresden lebenden Autors Jens Wonneberger. Plaschinski ist ein Held, der in seiner Einsamkeit zum schrulligen Bruder all jener zum Unglücklichsein aufgelegten, in ihrer Haut heimatlosen Angestelltenfiguren der Literaturgeschichte wird. Zugegeben, der Angestelltenroman ist ein bisschen aus der Mode gekommen. Vielleicht weil der Angestellte und kleine Beamte zwischen all den pseudointeressanten Freelancern, den Kreativen und Hartz-IV-Empfängern aus dem die Wirklichkeit ordnenden Blick geraten ist. Dabei stellt das Beamtendasein, mental betrachtet, noch immer eine verbreitete Lebensform dar. Wonneberger hat sich eines solchen Lebens angenommen und dabei einen Ton aufgegriffen, den man aus den frühen Romanen Wilhelm Genazinos kennt: In einem wunderschön traurigen, lakonischen, ganz zurückgenommenen Gestus, der manchmal ins Komische kippt, zeigt er an seinem abgründig normalen Helden die Entfremdung von Ich und Welt. Und die Entfremdung von sich selbst: "Ich fühle mich jung, doch das Zerwürfnis zwischen mir und meinem Körper hat langsam aber sicher einen Grad erreicht, bei dem sich nicht mehr vermitteln lässt, ich kann das alles höchstens noch ignorieren."

Herr Plaschinski ist ein verschlossener Held, eingeschlossen in seine Routinen; Überschreitungen seines engen Lebensradius' stimmen ihn verdächtig. Wird er selbst zum Objekt der Beobachtung oder des Geredes, wird es ihm ungemütlich. Seine Gewohnheiten sind ihm Rettungsanker. Manchmal möchte er sich interessanter machen, als er ist, und er bemerkt die Falschheit seiner Ambitionen schneller als seine Umwelt. Selbst bei seinen Phobien lässt er sich auf keine Experimente ein: Wenn er in der Morgendämmerung zur Arbeit geht, lauert ihm an einer der Hausecken eine einsame Gestalt auf, die sich aber stets als der immergleiche Buchsbaum entpuppt.

"Ich weiß es und vergesse es immer wieder, jeden Morgen ein kleiner Schreck und dann die Erleichterung." Eine Stunde früher von der Arbeit entlassen zu werden, bedeutet für Herrn Plaschinski ein großes Kümmernis. Die geschenkte Zeit, mit der er nichts anzufangen weiß, ist wie ein Mahnmal der eigenen Tatenlosigkeit. Dass Plaschinski bei der Bundesversicherungsanstalt arbeitet und Lebensläufe auf ihre Rentenansprüche hin prüft, ist von besonderer Ironie: Das Dasein wird hier auf einen Aktenvorgang heruntergebrochen - und der Vorgang setzt sich bis ins Private fort. Plaschinski ist das Leben eine stetige Überforderung, der nur mit Gleichmut und Gewohnheit zu begegnen ist. "Es gibt so vieles, über das ich nachdenken möchte, aber wie so oft reicht schon dieser Vorsatz aus, jeden zielgerichteten Gedanken zu vertreiben."

Es ereignen sich allerdings zwei Dinge, die Plaschinskis Erstarrung zwar nicht auflösen, aber doch zumindest irritieren: Vor zwei Jahren, als er Dienst in der Kleinstadt Neukamlitz hatte, wäre er beinahe Opfer einer Attacke von Neonazis geworden. Damals wurde er durch das beherzte Auftreten eines Mannes namens Zimmermann gerettet, und nun vermutet er am gegenüberliegenden Fenster eben jenen Klaus Zimmermann wiedergefunden zu haben. Diese Episode und weitere kleine Ereignisse, Spurenelemente in diesem Text, lassen unterschwellig eine nicht recht fassbare Bedrohlichkeit entstehen: Hier rumort etwas, von dem sich nicht recht sagen lässt, ob es der labile Psychohaushalt Plaschinskis gebiert oder ob dieser durch seinen Vorposten an der Alltagsfront einfach ein Gespür hat für ein sich wandelndes gesellschaftliches Klima.

Daneben geschieht noch etwas ganz anderes: Plaschinski lernt die junge Kollegin Anna-Sophie kennen, und es entwickelt sich andeutungsweise eine Romanze. Aber zur charakterlichen Disposition Plaschinskis gehört, dass er sich durch das eine Ereignis nicht zum Handeln animiert und durch das andere ein wenig gestört sieht. Ganz am Ende verbringt er eine Nacht mit Anna-Sophie in seiner Wohnung. Während sie neben ihm schläft, schleicht er sich zu später Stunde in die Küche, stolpert über ihre Aktentasche, flucht kurz darüber, dass seine eigenen Ordnungsvorstellungen so leicht durcheinandergewirbelt werden können und blickt dann aus seinem eigenen wieder hinaus auf die fremden Leben: "Mich würde interessieren, wer in Manuelas Wohnung eingezogen ist. Gegenüber brennt noch Licht." Jens Wonneberger hat einen großen kleinen Roman über das Glück und Unglück des Beobachtens geschrieben: ein wunderbar beiläufiges Spiel, das vom Unheimlichen des Alltags handelt - und von den unbeholfenen, fantasiereichen Fluchten aus der Gewöhnlichkeit.


Titelbild

Jens Wonneberger: Gegenüber brennt noch Licht. Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2008.
232 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783865217783

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