Des Russen reine Seele

Oleg Jurjew hinterfragt in seinen "Zwanzig Facetten der russischen Natur" den "Nationalcharakter"

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Durch Verstand ist Rußland nicht zu begreifen,
Mit allgemeinem Maß nicht zu messen.
Es hat ein besonderes Wesen:
An Rußland kann man lediglich glauben."

Verfolgt man die Absicht, den "Nationalcharakter" der Russen - so es ihn denn überhaupt gibt - zu beschreiben, so fällt es schwer, den berühmten Vierzeiler des Lyrikers Fjodor I. Tjuttschew (1803-1873) nicht zu zitieren. Auch in einem neu erschienenen Band des Insel Verlags mit dem Titel "Zwanzig Facetten der russischen Natur" des 1959 im früheren Leningrad geborenen Schriftstellers Oleg Jurjew findet er sich. Doch schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass der mittlerweile in Frankfurt am Main lebende russisch-jüdische Lyriker, Dramatiker, Erzähler und Essayist alles andere anstrebt als eine kitschig-sentimentale Darstellung der russischen Verhältnisse, die einen nicht selten an fromme Babuschkas oder singende und tanzende Donkosaken denken lässt.

Jurjew übertreibt zwar auch, aber auf eine besondere Art und Weise. Indem er den Russen Eigenschaften zuspricht, die den hierzulande gültigen Klischees widersprechen, gelingt ihm nicht nur eine ironische, aber dennoch treffende Charakterisierung seiner Landsleute, sondern auch die Infragestellung der Eigen- und Fremdwahrnehmung der West- und Mitteleuropäer. Dabei eröffnet er jeden Abschnitt mit einer These, die er im Folgenden ausführlicher erläutert. Um eine Vorstellung von ihnen zu geben, seien hier einige von ihnen wiedergegeben: "Die Russen sind friedfertig", "Die Russen sind wehrlos vor Gedichten", "Die Russen sind tolerant", "Die Russen wissen nicht, dass die Nicht-Russen sie nicht mögen" oder "Persönliche Rechtschaffenheit und Einhaltung der Gesetze sind eine Manie der Russen".

Anfangs kann man nicht anders als zu schmunzeln. Der Autor lässt uns teilhaben an einer eher unerwarteten Beschreibungsweise der vielseitigen Facetten seiner Landsleute. So heißt es einmal zum Thema "Die Russen hassen Spirituosen": "Wer hat dieses widerliche Zeug nur erfunden?! - sagt gern einer, der mit zwei Fingern ein facettiertes Glas hält. Erfunden haben es westeuropäische Mönche. Die trinkenden Russen hassen Spirituosen und ihren Geschmack mehr als die nicht trinkenden. Alle übrigen Völker trinken, um sich zu erwärmen oder in Stimmung zu kommen (die Völker, die trinken, um sich zu erwärmen, unterscheiden sich von den Völkern, die trinken, um in Stimmung zu kommen, darin, daß die ersteren sich erwärmt haben und die letzteren in Stimmung gekommen sind). Die Russen trinken, um (wenn auch nur für eine Weile) die sie peinigende ununterbrochene Arbeit ihres Verstandes anzuhalten."

Nach einigen Zeilen ändert sich jedoch der Ton. Denn Jurjew schwenkt bei seiner Beschreibung des russischen Wesens auch auf eine nähere Betrachtung der Charaktere der westlichen Nationen, die ebenfalls oft demaskierend wirkt: "Im Unterschied zu den kolonnenweise denkenden und fühlenden Europäern, ganz zu schweigen von den Amerikanern, die vom Säuglingsalter bis zu ihrem Höchstalter von siebzehn Jahren in Teenager-Cliquen (communities) mit streng festgelegten Verhaltensweisen und Weltbildern organisiert sind, sind die Russen völlig unfähig zum Leben im Kollektiv. Größere Individualisten, als die Russen von Natur aus sind, gibt es nicht. Deshalb waren die Machthabenden in Rußland, um ein staatliches und wirtschaftliches Leben zu ermöglichen, historisch gezwungen, das Individuum in kollektive Verhaltensmuster massiv zu zwingen. Im Westen ist diese Nötigung längst nicht mehr vonnöten: Dem kollektiven Menschen kann man die individuelle Freiheit des Denkens und Handelns geben - er wird sie nicht nehmen."

Durch diese spezielle Art der Charakterisierung gelingt es Jurjew, dem Leser auf einfache Weise darzulegen, wie austauschbar im Grunde solche Zuweisungen von Eigenschaften sind. Für ihn beruhen solche Vorurteile unter anderem auf Denkfaulheit: "Die Verweigerung des rationalen Diskurses beinhaltet unter anderem die Anwendung von Denkmustern und Bildern, die man auf das Eigene nicht anwendet, nur auf das Fremde."

Jurjews Methode ermöglicht es dabei dem westlichen Leser, noch einen Schritt weiter zu gehen und seine eigene Perspektive mit der östlichen zu vertauschen. Indem der Autor die Bewertungskriterien nicht an das westeuropäische, sondern teilweise an das russische Wertesystem setzt, relativieren sich die okzidentalen (Vor-)Urteile und Bilder vom Anderen. Anders ausgedrückt, erfährt der Rezipient eine "Entfremdung", die zu einer Infragestellung nicht nur seiner persönlichen Sichtweise führen kann, sondern auch zu einer der allgemein geltenden Normen.

Was den Schriftsteller selbst angeht, kommt es bei seinen "Charakterstudien" zuweilen vor, dass die Kritik, wenn auch unterschwellig, so doch deutlich ausfällt. Sie wird jedoch durchgängig von einer feinen Ironie überdeckt, die dabei den genauen Kenner des russischen Alltagslebens erkennen lässt. Schließlich will Jurjew in erster Linie unterhalten und nicht Mangel an Mangel reihen. Vielleicht offenbart er deshalb am Ende auch nur 13 Eigenschaften der russischen Natur: "Die weiteren sieben Facetten sind Geheimnisse, die ich nicht zu lüften wage. Aber für den frontalen Blick sind sie sowieso unsichtbar."

Dann kommt ein Schnitt. Nach den "Zwanzig Facetten der russischen Natur", die dem 2003 erschienenen, auf Russisch verfassten Roman "Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise" entnommen sind, folgen noch sechs Beiträge, die Jurjew zwischen 2002 und 2006 auf deutsch geschrieben hat. Worum geht es in ihnen? Ähnlich wie im ersten Teil umkreisen auch die folgenden Texte die Frage nach der russischen Identität im In- und Ausland. Dabei thematisiert der Schriftsteller auch eigene Erfahrungen. So erinnert er sich seiner Kindheit im Leningrad der 1960er-Jahre: Als Junge sehnt er sich nach einem Matrosenanzug und danach, aufs Meer zu fahren. Doch muss er einsehen, dass das "nix für kluge jüdische Kinder" sei und die Hoffnung im Gegensatz zu seinen russischen Altersgenossen aufgeben. Nicht eben einfach ist es auch mit dem von ihm begehrten Seemannskleid. Erst nach dem Fall des Ostblocks wird der mittlerweile Erwachsene diesen für ihn bis vor kurzem noch unerreichbaren Anzug kaufen können - und zwar in Deutschland, wohin er Anfang der 1990er-Jahre zieht. Dort gedenkt er auch seiner Heimatstadt, die inzwischen wieder Sankt Petersburg heißt und von ihrem Gründer Peter I. einst als (s)ein Paradies bezeichnet worden ist und in das er, der Emigrant, nach seinem Tod zurückzukehren hofft.

Im Anschluss daran räumt der Autor mit einem der verbreitetsten und beliebsteten Stereotypen auf, nämlich dass Petersburg eine europäische Stadt in einem asiatischen Land sei. Dabei stört ihn vor allem, dass die Gewohnheit, das Wort "europäisch" als Synonym für zivilisiert, fortschrittlich, hygienisch und überlegen zu benutzen, trotz der negativen Erfahrungen im 20. Jahrhundert nichts an ihrer Macht verloren habe. Hinsichtlich der Bewertung plädiert er stattdessen für eine vorurteilslose Sichtweise auf die Stadt und zitiert dafür zwei ihrer Besucher, nämlich Lewis Carrol und Joseph Roth, die tief beeindruckt von der "Eigenheit" Russlands, das heißt in diesem Fall von den hier angetroffenen ungewohnten Maßen und Weiten berichten.

Schließlich kommt Jurjew auf die "Grundsteine des Mißverständnisses" zu sprechen, nämlich auf zwei Fjodors, von denen der eine der besagte Tjuttschew ist. Er zitiert das berühmte Bonmot des Diplomaten und erläutert, weshalb es seiner Meinung nach mit zu dem unrealistischen Russlandbild im Westen beigetragen habe. Auf ähnliche Art verfährt er auch mit Fjodor M. Dostojewski (1821-1881). Ihn macht der Autor hauptsächlich verantwortlich für das Bild der besonderen "russischen Seele" im Europa. Denn es seien eben die Gestalten seiner Texte, die "einfachen Leute" - keine realen, sondern konstruierte und stilisierte Figuren -, die die Imagination seiner zahlreichen Leser im Westen beflügelt, aber auf diesem Wege auch zu einer falschen Vorstellung von Russland verleitet hätten.

Der mit zehn Bildern des russisch-sowjetischen Malers Kusma S. Petrow-Wodkin (1878-1939) ausgestattete Band ist all denen zu empfehlen, die die bestehenden Vorurteile und Klischees bezüglich der "russischen Seele" einmal genauer ergründen möchten: Durch die Zuweisung von Charaktereigenschaften an die Russen, die den hierzulande gültigen Klischees widersprechen, gelingt es Oleg Jurjew zum einen, aufzuzeigen, wie stark die okzidentale Wahrnehmung und Darstellung ihrer östlichen Nachbarn von literarischen (Vor-)Bildern und eigenen Wunschfantasien beeinflusst ist. Zum anderen weist er bezüglich der Russen auf ihre Identitätsprobleme seit den Bestrebungen Peters I. hin, das Reich nach westeuropäischem Vorbild zu modernisieren. Schließlich hätte die teilweise widerspruchslose Übernahme der westlichen Lebens- und Denkweisen durch die russische Elite entweder zu sklavischer Anlehnung oder Ablehnung geführt. Jurjew resümiert: "Eigentlich kann man den westlichen Feind- und Freundbildern Rußlands so lange keine Vorwürfe machen, wie das russische Denken nicht so auf sich schauen wird, wie es alle anderen auch tun: nicht nur von außen, sondern vorwiegend von innen, weniger vergleichend, mehr verstehend, nicht mit heiligem Zorn oder überschäumender Idealisierung, sondern mit pragmatischer Selbstzufriedenheit und liebevoller Ironie. So ungefähr, wie die Franzosen ihre ,Grande Nation' sehen."


Titelbild

Oleg Jurjew: Zwanzig Facetten der russischen Natur.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
68 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783458193074

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