Glühender Draht

Jo Nesbøs neuer Roman "Schneemann" hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer keine Probleme hat, der macht sich eben welche. Und sind sie einigermaßen glaubhaft, dann lässt sich daraus auch ein im Großen und Ganzen tragfähiges Trauma stricken, das mindestens als Plausibilisierung eines Mordes im Affekt, mit einigem Glück sogar für eine ,Karriere' als veritabler Serienmörder taugt. So zum Beispiel jene merkwürdige Statistik, dass jedes fünfte norwegische Kind nicht von dem Vater stammt, dem es rechtlich zugeschrieben wird. Ist also ziemlich was los in norwegischen Ehen, oder besser gesagt, in den Ehebetten anscheinend eben nicht, sonst würden die Damen ja ihr Glück nicht woanders suchen.

Trotz fehlender genealogischer Notwendigkeit scheint das Problem Kuckucksei drängend genug dafür zu sein, dass es seiner kriminologischen Aufwertung harrt. Jo Nesbø hat sich dieser Aufgabe nun verschrieben.

Seit Jahren verschwinden in seinem Krimi-Norwegen beim ersten Schnee verheiratete Frauen, ohne dass sie je wieder auftauchten. Dem Nesbø'schen Hauptermittler Harry Hole fällt ein solcher Fall in den Schoß, und schnell wird ihm klar, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um das Werk eines Serienkillers, der in Norwegen anscheinend schon seit Jahren sein Unwesen treibt.

Spätestens als Hole einen Brief vom Killer bekommt, der sich wegen seiner Marotte, seinen Opfern im Garten einen Schneemann zu bauen, Schneemann nennt, weitet Hole seine Suche aus, unterstützt von einer neuen Kollegin, Katrine Bratt, die fast genauso eigensinnig zu sein scheint wie Hole. Hole nun macht sich auf die Suche und findet immer mehr Fälle und Verbindungen, die zunächst einen Arzt verdächtig machen, der sich schließlich selbst umbringt. Es folgen weitere mögliche Täter: der Ehemann eines der Opfer, ein mittlerweile lange vermisster Kollege in Bergen, die Kollegin Bratt und ein weiterer Arzt. Das Täterfähnchen wird lustig weiter gereicht, und immer sind es klare Indizien, zum Teil sogar Beweise, die auf die jeweilige Person verweisen.

Allerdings gerät das, was als Verwirrspiel angelegt ist, auf Dauer zu einer Art Bäumchen-wechsle-Dich-Spiel, in dem vor allem eines klar ist, dass nämlich der jeweilige Verdächtige gar nicht der Täter sein kann, solange das Buch nicht zu Ende ist. Noch hundert Seiten zu lesen? Dann ist er es nicht. Der nächste bitte.

Das ist sogar im Großen und Ganzen trotzdem ganz unterhaltsam, zumal der Schneemann ein einigermaßen skurriles Verfahren hat, seine Opfer ums Leben zu bringen: Er zerteilt sie mit einer sich selbst erhitzenden, glühenden Drahtschnur, die sonst nur von Tierärzten verwendet wird, die Kälberleichen aus der Mutterkuh herausschneiden müssen. Es kommen noch ein paar gruselige Verfolgungsjagden hinzu - nachts, im Schnee, durch einen Bach, die Verfolgte verfängt sich in einer Fuchsfalle, wo der Killer sie dann mit seinem Glühdraht schnappt - Holdriho, das ist ganz schön heftig zu lesen. Aber der Leser soll ja auch nicht enttäuscht werden.

Auch Holes Vorgesetzte sind wie stets unkooperativ und vor allem auf den guten Ruf der Polizei bedacht, die schnelle Erfolge und effiziente Arbeit braucht und keinen Alkoholiker, der nicht die Finger vom Schnaps lassen kann - denn so einer ist Hole zu allem Unglück auch noch.

Von dieser Seite her ist Nesbøs "Schneemann" vor allem ein Produkt, das seine Leser ebenso kennt, wie seine Leser genau das von ihm verlangen, was es zu liefern imstande ist. Dazu gehört auch die psychotische Imprägnierung des Täters: Ja, Mama ist fremd gegangen, und der böse Bubi hat dabei durchs Fenster zugesehen. Ob das schon Grund genug ist, Mama gleich umzubringen und in den folgenden Jahrzehnten alle sonstigen Frauen, deren Kinder nicht von ihren Ehemännern stammen, lässt sich wohl mit gutem Grund bezweifeln. Obs traumatisch genug ist - wer weiß?

Gesellschaftliche Relevanz, die - folgt man dem Klappentext - eine deutsche "Frauenzeitschrift" namens "Brigitte" den Krimis Jo Nesbøs zuschreibt, hat das allerdings definitiv nicht. Ganz im Gegenteil. Seitdem die Nazis ihren Krieg gründlich verloren haben, sollten Abstammungslinien langsam ihre soziale Bedeutung verloren haben. Spätestens seitdem die Patchworkfamilie zum Standard gesellschaftlichen Lebens geworden ist, sollte die Frage der genetischen Vaterschaft nachrangig geworden sein. Und seitdem Sexualität so weit enttabuisiert worden ist, dass kein Mensch mehr unaufgeklärt durch die Pubertät kommt, sollte das traumatische Potential etwa eines Geschlechtsverkehrs der Eltern (auch eines außerehelichen) wenigstens ein bisschen abgenommen haben.

Mit anderen Worten, auch wenn es jedem Einzelnen vorbehalten bleibt, seine spezifischen Traumata zu entwickeln, und es jedem Krimi zusteht, sich seine Bösewichter selbst auszudenken, ist diese Konstruktion nun doch ein bisschen zu wackelig. Das "Böse" taugt vielleicht als Krimi-Buhmann - aber sogar in der gesellschaftlichen Realität ist es weniger eine sich selbst generierende Macht als Ausdruck von Interessen, die sich ihren Weg ohne Rücksicht auf Verluste suchen. An diesem gesellschaftlich relevanten Thema schreibt Jo Nesbø jedenfalls weit vorbei. Der Winter war übrigens wirklich kalt dieses Jahr. Nur zum Schneemann bauen war keine Zeit.


Titelbild

Jo Nesbø: Schneemann. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob.
Ullstein Verlag, Berlin 2008.
490 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783550087578

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