"Wer weiß, was Sehnsucht ist, wird mich verstehen"

Uwe Tellkamp baut seine Leipziger Poetikvorlesung auf Sand

Von Gunther NickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunther Nickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das neueste Buch von Uwe Tellkamp, "Die Sandwirtschaft", wartet gleich mit zwei Untertiteln auf. Der erste lautet "Anmerkungen zu Schrift und Zeit" und geht in Ordnung. Der zweite dagegen, "Leipziger Poetikvorlesung", ist irreführend. Nicht überall, wo heutzutage Poetik draufsteht, ist auch eine Poetik drin. Das gilt besonders für das relativ junge Genre der Poetikvorlesung, und ganz besonders gilt es in diesem Fall.

Unter Poetik versteht man, so erläutert es Gero von Wilpert im "Sachwörterbuch der Literatur", "die Lehre und Wissenschaft von Wesen, Gattungen und Formen der Dichtkunst sowie den ihnen eigenen Gehalten und Darstellungsmitteln". Sie hat mithin einen systematischen und damit unvermeidlich auch einen gewissen akademischen Zug. Tellkamp kann und will eine solche Sorte Text jedoch nicht schreiben. Analysen literarischer Texte macht er ausgesprochen ungern. Ihm komme das vor, erklärt er, als würde er einen Kuss rezensieren. "Ich bin kein Wissenschaftler, und so werden Sie mir die vielen 'Empfindungen', Gefühlsäußerungen und 'Musikalien' dieses Textes nachsehen müssen."

Müssen? Nein, man muss ihm das überhaupt nicht nachsehen. Man kann es aber, dann nämlich, wenn man seine "Sandwirtschaft" als Bekenntnisprosa liest, die viele sehr poetische Passagen enthält, aber eben nur wenige poetologische.

Wozu sich Tellkamp bekennt? Zunächst einmal zum Pathos, aber zu einem, "das weder sentimental noch hochtrabend ist". Ironie dagegen schätzt er genauso wenig, wie Mauritz Kaltmeister, der Protagonist seines Romans "Der Eisvogel": "Ironie", so Tellkamp, "methodisch gebraucht, wird zur Gefangenschaft der Mutlosen, leicht zum Zynismus und dann unfähig zum Beginnen." Einer von seinen Hausgöttern ist deshalb - naheliegend - Friedrich Hölderlin (und nicht etwa Heinrich Heine). Andere sind Stefan George, Thomas Mann (dessen "heitere Ambiguität" ihm Tellkamp offensichtlich nachsieht)sowie - nicht ganz so naheliegend - Friederike Mayröcker und Thomas Kling.

Um ihnen zu huldigen, bedient sich Tellkamp vorzugsweise zweier Mittel. Das erste ist das Zitat, eingesetzt wie ein Beweismittel, das jede weitere Erläuterung überflüssig macht. Immer schwingt dabei gleichsam das faustische "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen" mit. Das zweite Mittel ist die synästhetisierende Paraphrase. Tellkamp "übersetzt" zum Beispiel Verse Hölderlins in Musik und Malerei: "'Der Nordost wehet', Auftakt, lyrische Figur und makellose Intonation, jenseitig einfach wie das Saxophonspiel Charlie 'Bird' Parkers, und dann streut der zweite Meister seine Farbe ein, 'Der Liebste unter den Winden', das ist so hellblau wie Coltranes Musik, wenn er Naïma eine Liebeserklärung spielt."

Gegen beide Mittel ist nichts zu sagen. Sie haben nur keinen diskursiven Charakter ("diskursiv" hier nicht im Sinne des Diskursbegriffs von Michel Foucault, sondern des aus der Mode gekommenen von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas gebraucht). Und das gilt auch für die Abneigungen, die Tellkamp verkündet: So vermag er in den "lakonischen Situationsnotaten", die Bertolt Brecht als Lyrik ausgegeben habe, "Lyrik, wie ich sie verstehe, bis heute nicht [zu] entdecken [...], Ausnahme: 'Erinnerung an die Marie A.'". Tellkamp erklärt sich auch unfähig, "permutative Satzbau- und Rechenexempel" zu goutieren; sie machen in seinen Augen "die Konkrete Poesie und vieles aus der Wiener Gruppe und von deren Nachfolgern ungenießbar". Das alles sei Tellkamp unbenommen. Nur wäre, zumal wenn man derlei in einer Poetikvorlesung zum besten gibt, zwischendurch auch mal ein Argument vorzubringen angebracht. Das aber sucht man in der ersten Hälfte dieses Buches vergebens.

Was man dort findet, sind nur Proklamationen, für die Tellkamp eine allgemeine Zustimmungspflicht nicht reklamieren kann, solange er sie nicht begründet. Das sagt in diesem Fall ein Rezensent, der vielen (nicht allen) Überlegungen Tellkamps eine Menge abgewinnen kann, vor allem seine Aversionen gegen "die Bevorzugung des Temperierten, der mittleren Preislagen" teilt. Aber was unter "mittleren Preislagen" genau zu verstehen ist und warum sie so zu klassifizieren sind, wäre selbstverständlich darzulegen gewesen. Aber auch das hat Tellkamp nicht getan; man kann es aus späteren Passagen des Buchs allenfalls ungefähr erschließen.

Er stellt allerdings sehr gute Fragen, zum Beispiel: "Was fängt man, wenn man an-fängt?" Oder: "Weshalb eigentlich ist lustige Lyrik meist gereimt?" Ihm gelingen Charakterisierungen, die zu funkelnder aphoristischer Brillanz kondensiert sind: "Kitsch: das Typische ohne Ausnahme." Andere, wie die Bezeichnung von Endreimen als "Gedächtnishaftkleber" sind so originell wie amüsant. Tellkamp kredenzt auch Metaphern, die verraten, dass er in der Lyrik mehr als nur bestens bewandert ist: "Ihr Mund eine feingezeichnete Amaryllis / dunkelrot von Geheimnis". Wer solche Formulierungskunst schon in Tellkamps Romanen bewundert hat, dürfte daher auch an diesem Brevier seine Freude haben.

In der zweiten Hälfte des Bandes gibt es, wie schon angedeutet, dann doch noch ein paar Anläufe zu einer Poetik. So skizziert Tellkamp knapp, "warum es so schwer ist, unserer Zeit überzeugend in Prosa beizukommen" und weshalb das die Lyrik viel besser könne. Es ist natürlich kurios, das ausgerechnet von einem Autor zu hören, der vor kurzem erst mit einem fast 1.000 Seiten umfassenden Roman den Deutschen Buchpreis gewonnen und die Bestsellerlisten erobert hat. Aber dass angesichts stetig wachsender Schnellebigkeit das reiche Arsenal lyrischer Mittel zeitgemäßere Ausdrucksformen bereithält als ein behäbiger Gesellschaftsroman, ist unmittelbar einleuchtend und wird von Tellkamp mit guten Beispielen belegt. Fragt sich nur, erstens: Warum steht dann die Lyrik so niedrig im Kurs der Buchkäufer? Und zweitens: Warum schreibt Tellkamp noch Romane?

Rezeptions- und wirkungsästhetische Überlegungen sind Tellkamps Sache nicht, und so bleibt die erste Frage offen. Auf die zweite gibt er ebenfalls keine Antwort, denn zur "adäquaten Form, unserer Zeit und Welt im Weltentwurf zu begegnen" erklärt Tellkamp nicht den Roman, sondern das Epos. Es sei, so sein Argument, von allen lyrischen Ausdrucksweisen allein in der Lage, "viele widerstreitende Stimmen, indem es sie als Teil eines größeren Ganzen und das Ganze somit als Partitur behandelt, in einer Komposition zu harmonisieren".

Ihm scheint es indes "möglich, daß der Roman sich, jedenfalls in einzelnen 'avantgardistischen', sprich: Vorausexemplaren, wieder zum Epos zurückneigt". Diese Überlegung gab es schon einmal, nämlich bei Alfred Döblin, und sie steht in Kontrast, um nicht zu sagen: in unversöhnbarem Gegensatz zur fortschreibenden Transformation eines realistischen Erzählkonzepts bei Thomas Mann. Während Döblin von Tellkamp jedoch noch nicht einmal erwähnt wird, erweist er Thomas Mann ehrfurchtsvoll seine Reverenz ("Es ist schwer verzeihlich, so spät auf Thomas Mann zu kommen").

Solche Inkonsistenzen haben ihren überaus sympathischen Grund in Tellkamps großer Leidenschaft für Literatur, die sich allen Systematisierungsversuchen widersetzt. So schwelgt er, nachdem er gerade noch über Werke nachdachte, "wie das 21. Jahrhundert sie hervorbringen könnte", plötzlich über Joseph von Eichendorffs "Mondnacht", um am Ende Hans Carossa und Theodor Kramer als "unterschätzte und vergessene Meister" anzupreisen und Georg von der Vrings "Kinderschiffe" zu zitieren. "Das ist", erklärt er anschließend, "einfach wie ein Volkslied und rührt mich. Ein rührendes, ein zartes Gedicht das ich liebe. Wer weiß, was Sehnsucht ist, wird mich verstehen."

Die Literaturkritik kann bei Bekenntnissen dieser Art nur kapitulieren. Liebeserklärungen lassen sich so wenig rezensieren wie Küsse.


Titelbild

Uwe Tellkamp: Die Sandwirtschaft. Leipziger Poetikvorlesungen 2008.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
163 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-13: 9783518069998

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