Der Fehler als Chance

Yvette Sánchez und Philipp Ingold versammeln in ihrem Band "Fehler im System" 24 Aufsätze zur Produktivität des Irrtums

Von Sigrid GaisreiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrid Gaisreiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Fehler gehört zur Welt wie schlechtes Wetter, und weil er ubiquitär verbreitet ist, kann man ihn überall aufspüren. Wie sinnvoll es ist, Fehler zu sammeln und daraus ein Buch zu machen, darüber darf insbesondere dann gestritten werden, wenn eine Sammlung keinen Anspruch auf Systematik erhebt, sondern sich als buntes Sammelsurium präsentiert. Dies ist in der Publikation, die von Felix Philipp Ingold und Yvette Sánchez verantwortet wird und mit "Fehler im System" betitelt wurde, der Fall. Der Untertitel "Irrtum, Defizit und Katastrophe als Faktoren kultureller Produktivität" zeigt an: Der Fehler tritt in verschiedenen Formen als produktives Element auf. Die Herausgeber konnten für diese Publikation 23 Beiträger aus unterschiedlichen Fachgebieten gewinnen. Der vierundzwanzigste Aufsatz stammt vom 1998 verstorbenen Niklas Luhmann und wurde bislang nicht in Buchform veröffentlicht. Der Beitrag ist schon deshalb bedeutsam, weil Luhmann darin seine Risikotheorie in nuce entfaltet.

Sprach der oberste Rationalist René Descartes von "glücklichen Fehlern", so bezog sich Hegel auf die Furcht vor Fehlern, die, so die Herausgeber, inzwischen einer größeren Fehlertoleranz gewichen sei. Diese Beobachtung hat empirisch einiges für sich, erschienen doch in den letzten Jahren so viele Abhandlungen zur Thematik, dass es eine Liste lohnen würde. Um die "Kunst, Fehler zu machen" geht es bei Manfred Osten. Ralf Caspary spricht davon, dass nur wer Fehler mache, weiter komme, Konstantin Wecker betont die "Kunst des Scheiterns" - bei Ronald Reng stolperten sich einige Fußballspieler durch "großartige Mißgeschicke [...] für immer in unsere Herzen". Doch in zwei Bereichen, in einigen Wissenschaftszweigen und bei technischen Innovationen, wird auch heute nicht gern über Fehler gesprochen oder dazu publiziert - obwohl, darin sind sich Kritiker dieser negativen Fehlerkultur einig, eine Veröffentlichung helfen würde, zukünftig Fehler zu vermeiden. Damit wäre das Thema der Herausgeber wieder eingeholt und schon Hegel, der leider im vorliegenden Band ungenannt bleibt, wusste: "dass diese Furcht zu irren, der Irrtum selbst ist".

Den wollten die Herausgeber nicht begehen und begeben sich auf eine Tour, die sich am Code Fehler / System orientierend, Chancen im Misslingen aufspürt. Da keine Systematik angestrebt wurde, werden von den beitragenden Autoren viele Geschichten erzählt, welche nur locker durch drei Ordnungsprinzipien zusammen gehalten werden: 1) Fälschung, Scheitern, Untergang, 2) Fehlleistung, Fehltritt, Fehlerkonstruktion und 3) Irrtum, Paradox, Negation zusammengehaltene Geschichten erzählt. Das liest sich durchweg vergnüglich, manchmal führt die Geschichte auch weit weg vom Fehlergeschehen, so dass diese Autoren dem Thema eher auf formaler als auf inhaltlicher Ebene, als konstruierte Abweichung, gerecht werden und daher im Schlusssatz, damit der Zusammenhang zum Thema erkennbar wird, explizit vom Fehler sprechen. Der tritt in zwei grundsätzlichen Varianten auf, als Fehler im System und das System als Fehler.

Die Fehlersuche war erfolgreich. Zu den in den drei Kapitelüberschriften genannten Formen treten hinzu: Defizit, Missverständnis, Krise, Katastrophe, Anomalie, Unvollständigkeit, Auslassung, Abfall, Abweichung, Außenseiter, Stolpern, Stürzen, Verzeichnungen, Verfehlung und Aporie. Da es Beispiele in Hülle und Fülle gibt, wird auch ein bunter Strauß mit Beispielen aus den Bereichen Medizin, Naturwissenschaften, Bildender Kunst, Film, Tanz, Philosophie, Wirtschaft und Alltag serviert. Eine der schönsten Geschichten, die das Leben schrieb, publizierte mit "Der Weltmaschinenroman" unlängst Klaus Ferentschik, der auch das absurdistische Philosophie- und Wissenschaftskonzept von den imaginären Lösungen der auch bei Ingold und Sánchez erwähnten Pataphysikern vorstellte. In diesem Roman steht am Anfang ein Wortfehler. Aus dem "Atomium" in Brüssel wird das "Atominium", weil der Leser dieser Zeitungsnachricht, von dem Wahrzeichen der Weltausstellung in Brüssel ob diesem fast in Trance gerät und ihn dazu inspiriert, seinen Traum, eine Weltmaschine selbst herzustellen, in die Realität umzusetzen. Die Herausgeber hielten es auch nicht für sinnvoll, nach unterschiedliche Fehlerqualitäten zu sortieren, die, sowohl in ihren Entstehungs- als auch in ihren Wirkungszusammenhängen, beträchtliche Unterschiede in den Fehlertoleranzen hervorbringen. Paradox gesprochen, der Fehler im "Fehler mit System" ist ein Leerbegriff.

Im Verhältnis zu vielen Texten der Weltliteratur, genießt Ernst Jandls "velwechsern" des "lechts" und "rinks" fast ebenso Kultstatus wie die Figuren "Bartleby" oder "Don Quichote" - der eine verweigert, der andere scheitert. Im Bereich der schönen Literatur herrscht an solchen Phänomenen, Aktivitäten und Dingen, die sich in irgendeiner Form mit Defizitärem befassen, kein Mangel. Das sahen auch die Herausgeber und räumten der Belletristik den umfangreichsten Platz in dieser Anthologie des Fehlerhaften ein. Es werden jedoch an den Leser hohe Ansprüche gestellt. Sowohl des Französischen, als auch literaturwissenschaftliche Fachbegriffe sollte man mächtig sein, sonst geht es den Rezipienten wie einem der berühmtesten Dilettantenpaare der Weltliteratur, Bouvard und Pécuchet im gleichnamigen Roman von Gustave Flaubert: Auf ein Stolpern folgt das nächste und zum Schluss der Serie aus Pleiten, Pech und Pannen eine Verweigerung. Die Störanfälligkeit der Kommunikation hätte durch ein Glossar und durchgängige Übersetzungen vermindert werden können.
Das Thema ist nicht neu und es wird ein heterogener Mix in jeder Hinsicht, begrifflich, methodisch, im Erzählgestus, in Aufbau und Ansatz, in Vorkommen und Auswirkungen von Fehlern, präsentiert. So setzt Luhmann - das war nicht anders zu erwarten - auf kategoriale Zuordnungen sowie Unterscheidungen und pflegt einen spröden Stil. Dem verwandt ist die Ausführung zum medizinischen Irrtum, den ein Autorentrio, Christa Meyenberger, Marianne Ortner und André L. Blum verantwortete. Mit heißer Nadel dagegen ist Thomas Rothschild unterwegs, der eine Philippika zur Literaturkritik Marcel Reich-Ranickis und Elke Heidenreichs als leicht lesbare Ideologiekritik verfasste. Auf literaturwissenschaftlichen Höhen wandelt dagegen die Herausgeberin, die ihren Text mit literaturwissenschaftlichen Termini spickte.

Diese Zuschnitte kann man goutieren, folgt man dem Ahnherrn der konstruktivistischen Poesie - Eugen Gomringer. Nicht nur ziert den rückwärtigen Schutzumschlag dessen Gedicht "kein fehler im system", sondern er formulierte auch, dass ein System erst dann fehlerhaft sei, wenn es keinen Fehler mehr aufweise. Der Fehler oder Mangel auch dieses Buches kann schon deshalb kein Endpunkt sein, weil sich die Paare Norm und Abweichung, Etablierte und Außenseiter nur in der schönen Literatur so leicht gruppieren lassen, wie es hier, auch für andere Bereiche, den Anschein hat. Weder soziologisch, noch wissenssoziologisch oder wissenstheoretisch sind die Beiträge auf der Höhe der Zeit. Spätestens in den 1970er-Jahren wurde Nicht-Wissen in den Risikokonflikten um Kernenergie und andere wissenschaftlich-technische Innovationen zur Sprache gebracht und ist mittlerweile längst soziologischer Gegenstand. Auch die Arbeit des Soziologen Norbert Elias zu Etablierten und Außenseitern ist mittlerweile so bekannt, dass sie zum Standardwerk avancierte. Die Herausgeber hätten sich auf das Gebiet, für das der meiste Platz reserviert wurde, auf die schöne Literatur, beschränken sollen. Sie hätten zwar Fragen, wie Fehler überhaupt festgestellt, analysiert und welche Varianten davon unterschieden werden können, nicht ausweichen können, aber so stellen sie sich, wegen des Unterschieds des Status von Konsequenzen, umso dringlicher. Ein Lesevergnügen bleiben die Fehlermeldungen aber allemal und die Herausgeber tragen dazu bei, sich dem Versagen nicht zu versagen.


Titelbild

Felix Philipp Ingold / Yvette Sanchez (Hg.): Fehler im System. Irrtum, Defizit und Katastrophe als Faktoren kultureller Produktivität.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
382 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835303270

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