Nichts gelogen, alles ehrlich erfunden

Felicitas Hoppe präsentiert in ihrem Buch "Sieben Schätze" (k)eine Poetikvorlesung

Von Gunther NickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunther Nickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon wieder eine Poetikvorlesung! Diese junge Textsorte vermehrt sich mit einer Wachstumsrate, von der man in der Finanzwirtschaft zur Zeit nur träumen kann. Seit langem ist Frankfurt am Main die unangefochtene Hochburg dieses Genres. In Kiel, Göttingen, Leipzig, Bamberg, Augsburg und München will man jedoch längst nicht mehr nachstehen. Und in Hildesheim äußern sich Absolventen des "Studiengangs für kreatives Schreiben und Kulturjournalismus" inzwischen bereits poetologisch, bevor sie ihr erstes Buch veröffentlicht haben.

Wenn das ungebremst so weitergeht, entstehen in Deutschland bald Jahr um Jahr mehr Poetiken als Literaturpreise verliehen werden, also jeden Tag eine neue. Spätestens dann wird man Felicitas Hoppe vermehrt beizupflichten beginnen, die jetzt schon "im Angesicht der Überfülle" literaturbetrieblicher Aktivitäten zum rigorosen Schneisenschlagen rät: "In Zeiten inflationärer Angebote ist nicht das ängstliche Aufheben, sondern das entschiedene Wegwerfen eine Kardinaltugend."

Hoppe wurde im vergangenen Jahr zu einer Poetikvorlesung nach Augsburg eingeladen, die sie im Rahmen einer nach Bertolt Brecht benannten Gastprofessur auch gehalten hat. Aber sie gibt, was sie damals schriftlich niederlegte und nun als Buch publizierte, nicht als Poetik aus, spricht vielmehr schlicht und bescheiden von "Augsburger Vorlesungen". "Literatur", das weiß und bekräftigt sie, "funktioniert nämlich anders als Wissenschaft", weshalb Schriftsteller wissenschaftlich auch "nur bedingt zurechnungsfähig" seien.

Eine Poetik jedoch ist ein der Wissenschaft mindestens verwandtes Genre, und Hoppe hält wenig von der "gefühligen Aufweichung" von Grenzen. Versöhnende Unentschiedenheit bei Zuständigkeitsfragen bedeute "immer auch einen Verzicht auf Auseinandersetzung", und "den Verlust produktiver Feindschaft, von der sowohl die Literatur als auch die Wissenschaft nicht nur untereinander, sondern auch nach außen hin seit jeher profitiert haben".

Als Schriftstellerin ist ihr schon das Halten einer Vorlesung über Gelesenes und Selbstverfasstes, selbst das Vorlesen eines literarischen Textes ein wenig suspekt. Denn jede Form des öffentlichen Auftritts hebe die Distanz auf, die für ihr Verständnis von Literatur essentiell ist: "Schließlich, so behaupte ich, schreiben wir [...] unsere Bücher nicht, um das Publikum persönlich zu treffen, sondern umgekehrt, um es mit ganz anderen Mitteln zu treffen. Dazu waren Bücher jedenfalls einmal da [...]. Wo Schreibende und Lesende hingegen persönlich aufeinandertreffen [...] wird genau diese spezifische Distanz der Literatur wieder aufgehoben."

Diese Autorin versteht sich im Wortsinn als Schrift-Stellerin, und aus diesem Selbstverständnis ergibt sich neben ihrem Verhältnis zum Publikum auch das zur Welt. Literatur ist für sie eine Simulation von Wirklichkeit, die ihren Fiktionscharakter nicht verschleiert. Sie ist ein Reich mit ganz eigenen Gesetzen, in dem, zumindest bei ihr, "nichts erlogen", sondern "alles ehrlich erfunden" werde.

Ganz anders dagegen gehe es etwa bei Karl May zu. Auch May simuliere zwar Wirklichkeit, aber er wolle eben genau das kaschieren. Hoppe hält sich da lieber an die autoreferenzielle Amerika-Fiktion Franz Kafkas, an Märchen wie das vom "Rumpelstilzchen" oder märchenhafte Geschichten wie Carlo Collodis "Pinocchio".

Dass diese Beispiele nur scheinbar heterogen sind, Kafkas Karl Rossmann tatsächlich mit Pinocchio viel mehr gemeinsam hat als mit Winnetou und Old Shatterhand, macht Hoppe auf sehr vergnügliche Weise deutlich und bleibt dabei keineswegs "dem Ungefähren verhaftet" oder "stets vage und unspezifisch", wie Tobias Lehmkuhl in der "Süddeutschen Zeitung" im März 2009 in einer "Kurzkritik" befand. Man könnte ihr allenfalls vorwerfen, dass sie sich überhaupt auf das Unternehmen einer Poetikvorlesung eingelassen, tatsächlich aber das damit gegebene Versprechen mal ausdrücklich, meistens aber performativ widerrufen hat.

Was sich ihr und dem Lektorat ihres Verlags darüber hinaus kleinkrämerisch vorrechnen ließe, sind ein paar Lappalien, zum Beispiel die Rede von den "verschiedenen Blickrichtungen des Schreibens" (weil nur Schreibende Blicke werfen können). Die Überlegungen zum "Tod des Autors" implizieren weder bei Michel Foucault noch bei Roland Barthes "zugleich den Tod des Lesers" - im Gegenteil. Auch äußerte sich Martin Mosebach in seiner Streitschrift "Häresie der Formlosigkeit" nicht als Künstler, sondern als gläubiger Katholik. Und die angebliche Anekdote von den Schriftstellern, die ihren ewigen Frieden erst finden können, wenn über ein Jahr auf Erden nicht mehr von ihnen gesprochen wird, ist in Wahrheit eine Erzählung des ehemaligen S.-Fischer-Autors Arno Schmidt und trägt den Titel "Tina oder Über die Unsterblichkeit".

Diese Kleinigkeiten werden hier aber nur vermerkt, weil Hoppe - erstens - selbst einmal Brecht (einbekanntermaßen pedantisch) eine ungenaue Formulierung ankreidet, - zweitens - weil der Verlag nun die von Brecht proklamierte Verbesserungsfähigkeit von Literatur wenigstens bei der nächsten Auflage dieser Literaturvorlesungen einmal praktisch demonstrieren kann und - drittens - um den Fehde-Handschuh, den Hoppe der Literaturwissenschaft rechtens zugeworfen hat, immerhin auf diese nörglerische Weise aufzunehmen.

Ansonsten gibt sie dazu nämlich wenig Anlass. Vor allem dort, wo sie gemäß dem Hölderlin'schen Vers "Unterschiedenes ist gut" für eine klare Grenzziehung zwischen Theologie, Literatur und Literaturwissenschaft plädiert oder über das stetig zunehmende Literaturbetriebsrauschen spottet ("gesprochen wird dabei viel, besprochen fast nichts"), vermag unsereiner ihr nur ein ums andere Mal zuzustimmen.


Titelbild

Felicitas Hoppe: Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
236 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783100324559

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