"Andere Sorgen haben Sie nicht, Herr Siemsen?"

Gesammelte Erlebnisse und Feuilletons von Hans Siemsen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über unnütze Geschenke hat sich jeder schon geärgert. Dabei bedarf es oft bloß eines anderen Blickwinkels, und schon leuchtet ihre verborgene Schönheit auf. Einer, der diese Kunst des Perspektivwechsels gerne pflegte, war Hans Siemsen. 1927 erinnerte er sich für seine Leser daran, wie ihm im Ersten Weltkrieg ausgerechnet ein Fläschchen Parfüm an die Front geschickt wurde. "Parfüm im kalten Unterstand zwischen Ratten, Läusen und Flöhen? Ein bisschen deplatziert, meinen Sie? Deplatziert - mag sein. Aber Sie können sich gar nicht vorstellen: was für ein Genuss! Ein bisschen auf die Hand geträufelt und die Augen zugemacht! Da wurde ja alles lebendig, genau alles das, was uns fehlte: ein bisschen Komfort, ein bisschen Luxus, ein bisschen Eleganz. Parfüm - das war gerade das Richtige!"

Siemsen, 1891 in Mark bei Hamm geboren, kennen heute nur noch wenige. Dabei war er im Berlin der 1920er-Jahre einer der gefragtesten Feuilletonisten. Siemsen schrieb für die "Weltbühne" und die "Frankfurter Zeitung", seine Bücher erschienen bei Rowohlt und Kurt Wolff, Alfred Döblin schätzte ihn ebenso wie Kurt Tucholsky. Es waren die Jahre im amerikanischen Exil, die den Pazifisten, Kosmopoliten und nicht zuletzt bekennenden Homosexuellen hierzulande in Vergessenheit geraten ließen. Als er 1969 in einem Essener Pflegeheim mit 78 Jahren starb, kannte kaum noch jemand seinen Namen. Daran hat sich bis heute wenig geändert, trotz einer dreibändigen Werkausgabe in den 1980er-Jahren. Im Berliner Arsenal Verlag, in dem schon so mancher Literat der Weimarer Zeit wiederentdeckt wurde, ist nun ein schmales Bändchen mit ausgewählten Feuilletons von Hans Siemsen erschienen. Zusammengestellt hat sie der inzwischen verstorbene Paderborner Germanist Dieter Sudhoff.

Es sind bezaubernde Prosastücke und amüsante Plaudereien, mit schneller Hand skizzierte Alltags- und Reiseimpressionen oder einfühlsame Schwärmereien über Schauspieler und Künstler. Siemsens Blick galt vor allem den kleinen Dingen des Lebens, die er mit einem geradezu kindlichen Staunen bewundern konnte. Wie jenes Kästchen, das ihm 1929 bei einem Umzug in die Hände fiel. "Da hab' ich ein Kästchen, ein japanisches, kleines, geflochtenes Strohkästchen gefunden - was da alles drin ist! Schlüssel - Schlüssel scheint es überall zu geben -, Heftzwecken, ein Kieselstein. Wo mag der her sein? Von Helgoland? Aus Ischia? Oder bloß aus dem Schützengraben? Ich habe ihn doch sicher aufbewahrt, weil eine Erinnerung mit ihm verbunden war. Die Erinnerung ist weg. [...] Da ist noch ein Stein! Der ist schwarz! Und eine dumme alte Zigarettenspitze aus Papier. Die habe ich nie gesehen. Wo kommt die her?"

Schon als Heranwachsender hielt Siemsen in tagebuchartigen Skizzen seine Erlebnisse fest. Die Dauerfrage des Vaters - "Wo hast du dich denn herumgetrieben?" - verwendete Siemsen augenzwinkernd als Titel eines seiner ersten Bücher. Nach Jahren erst in der Schwabinger, dann in der Pariser Boheme wurde Siemsen 1914 Mitarbeiter der expressionistischen Zeitschrift "Die Aktion". Der Krieg, den er bis zu seiner Verwundung 1917 an der Westfront erlebte, ließ ihn wie so viele seiner Generation zum Sozialisten werden. Als Erzähler schrieb der schwule Sohn eines evangelischen Pfarrers erotisch-zarte "Jungensgeschichten". Als Journalist engagierte sich Siemsen gegen die Todesstrafe und für die Abschaffung der "Moralparagraphen" 175 und 218.

In seinen Feuilletons erinnerte der passionierte Flaneur gern an den Wert der Langsamkeit - schließlich sei das Automobil nicht erfunden worden, um möglichst schnell an ein Ziel zu gelangen, sondern um unterwegs jederzeit aussteigen zu können. Dennoch bezeugen gerade Siemsens Texte, wie sehr sich das kulturelle Leben in der neuen Republik beschleunigt hatte. Statt ins Theater gingen die Menschen jetzt lieber ins Kino, statt dickleibige Romane lasen viele nur noch Zeitung. Auch Siemsens Texte sind kurz, unprätentiös, temporeich geschrieben und so radikal subjektiv wie die eines Kurt Tucholsky oder Alfred Polgar.

Als einer der ersten Filmkritiker warb Siemsen für die revolutionäre Kinokomik Charlie Chaplins, als Literaturkritiker für die Dichtungen seines Freundes Joachim Ringelnatz. Überhaupt stand er stets auf der Seite der Künstler und Artisten. Siemsen porträtierte Berühmtheiten wie die Schauspieldiva Asta Nilsen oder den Clown Grock ebenso wie den fleißigen Illusionisten, den er auf einem Jahrmarkt in Brig entdeckt hatte: "Monsieur Dante ist ein Zauberkünstler und wird auf den Plakaten dargestellt in einem roten Frack, mit einem gewaltigen schwarzen Schnurrbart im Gesicht und einem eleganten kleinen Zauberstab in der Hand. Umgeben von Tauben, Kaninchen und Goldfischgläsern [...] lächelt er, von einem imaginären Applaus geschmeichelt. / So sieht Monsieur Dante auf den Plakaten aus. Aber heute, am Vorabend des Jahrmarkts, hat er keinen Frack an, und keine Rosen fliegen um ihn her. [...] Er muss seine Bude aufbauen und muss arbeiten, nicht mit einem Zauberstab, sondern wie ein ganz gewöhnlicher Mensch mit Hammer und Nagel. Mit dem Zaubern ist's heute nichts".

Siemsen war ein sensibler Zeitzeuge, dessen Texte in gewollt naiver Diktion die Sehnsüchte und Träume der Menschen widerspiegeln. So mancher seiner Leser missverstand das als bloße Sentimentalität. Gänzlich fern lag ihm das theoretische Durchleuchten der neuen Massenkultur, wie es gerade von seinen Kollegen im Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" gepflegt wurde.

Mochten Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer Kinofilme oder Revueshows mit marxistischem und psychoanalytischem Werkzeug untersuchen - Hans Siemsen schrieb einfühlsam über "Minchen Miller", das unbekannte Tippfräulein, das beim Ballett angeheuert hat und nun berühmt werden will. Oder über das Haus der 2.000 Betten in Marseille, vor dessen Schaufenstern die Menschen sonntags träumend stehen. Oder über einen gewöhnlichen Kaktus in einem Blumenladen, der nur einmal im Jahr nachts märchenhaft aufblüht. Oder über den Besuch eines Nachtfalters an seinem Krankenbett.

",Andere Sorgen haben Sie nicht, Herr Siemsen?' / Was heißt Sorgen? Ich will ja hier nicht von unseren Sorgen reden. Sondern von einigen kleinen Vergnügungen des Lebens. Die gibt es. Die gibt es für jeden. Sollte es geben! Auch für den, der ganz andere Sorgen hat".


Titelbild

Hans Siemsen: Nein! Langsam! Langsam! Gesammelte Erlebnisse - Feuilletons.
Verlag Das Arsenal, Berlin 2007.
166 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3931109534

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