Ohne Pedal

"Das Bild des Pfarrhauses in der deutschen Literatur": Robert Minders Essay von 1959 ist auch nach 50 Jahren noch immer eine lohnende Lektüre

Von Albrecht BetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albrecht Betz

"Ich habe in meinem Leben viel zu viele Bücher gelesen", konnte Robert Minder im Gespräch lakonisch bemerken - ganz frei von Koketterie, sehr wach und reserviert zugleich, gemildert durch einen Tonfall, in dem das Elsässische diskret durchschimmerte. Gemeint war, dass der Preis für seine nachgerade panaromatische Sicht über die deutsche, zum Teil auch die französische Literaturgeschichte seit dem 18. Jahrhundert nur durch einen immensen, jahrzehntelangen Lektüreaufwand zu erringen war, und dass die eigene Produktion darüber etwas zu kurz gekommen sei. Die Bewunderer seiner Essays hätten sicher sofort widersprochen: Wenn solch funkelnde, von ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Einsichten vibrierende Texte herauskamen - nach vorausgegangener Goldwäsche riesiger Materialien - dann hatte der Aufwand sich allemal gelohnt.

Gleichzeitig mit der Aktualität auf Augenhöhe zu bleiben, Neuerscheinungen zu sichten und selbst die Literaturkritik nicht zu vernachlässigen, war in Paris ein Kunststück besonderer Art, vor allem eines der Zeitökonomie: wie den vermeintlich obligaten gesellschaftlichen Verpflichtungen, den "réceptions" entgehen - vor allem wenn man in einem so stark zentralisierten Land als die Nummer eins seiner Disziplin gilt und sich vor Einladungen kaum zu retten weiß? Wie sich den Kopf freihalten vom Gerede jener - in Paris besonders verbreiteten - rhetorisch brillierenden Casino-Intellektuellen, die bei jedem Empfang gedanklich bereits zum nächsten hüpfen? Anders gesagt: wie das Recht, seine Arbeitskraft zu verteidigen, durchsetzen ohne als verschroben, autistisch oder ungesellig zu gelten?

Ein gewisses Pathos der Distanz hielt jene in Schach, die dem zierlichen Gelehrten als zudringliche, notorische Selbstinszenierer erscheinen mochten; es war der nüchterne Blick des Skeptikers aus dem Osten des Landes, der Abstand gegenüber dem Glamour der Metropole für lebensnotwendig hielt. Privat - war das Vertrauen einmal da - wusste er durch intensivste Anteilnahme zu gewinnen. Die psychoanalytische Schulung ließ ihn gleich zum Kern der Konflikte vordringen, ihm etwas vormachen zu wollen musste zur Blamage führen.

Die meisten Attitüden der Pariser Bourgeoisie konnte er nicht ausstehen. Das schloss im akademischen Milieu die rasche Adaptation modischer Wissenschaftsjargons mit ein. Im engeren Kreis konnte er sich sarkastisch äußern sowohl über die heideggernden "philosophes" (der Begriff wird in Frankreich inflationär verwendet), wie über die betulich Tiefsinn schürfenden deutschen Geisteswissenschaftler auf der anderen Seite des Rheins. Der Anspruch, vielmehr Humanist und Weltbürger ineins zu sein, war ihm selbstverständlich. Die doppelte interkulturelle Perspektive - Minder war der geborene Komparatist - steigerte den Reichtum erkannter Zusammenhänge wie das kritische Potential gleichermaßen: wenn etwa affektive Leitbilder und deren literarische Umsetzung, ihre Breitenwirkung zur Untersuchung anstanden, schloß das den Blick auf geschichtliche Fehlentwicklungen und Gefahren ebenso ein wie den auf das psychologische Substrat, das den jeweiligen kollektiven Sehnsüchten und Wunschprojektionen zugrundelag - oder -liegt.

Die Hypertrophie deutscher Innerlichkeit gehörte zu den Themen, die ihn jahrzehntelang begleiteten. Es galt, das weite Feld sichtbar zu machen, das sich zwischen dem - säkularisierter Religiosität verdankten - Potential an seelischen Energien und dem "Herddämmerglück" seichter Sentimentalität erstreckt. Wie anfällig für politischen Missbrauch konnte, in bestimmten historischen Konstellationen, überzogene Introvertiertheit sein? Als wie manipulierbar konnte sich im Konfliktfall die langjähriger theologischer Bevormundung verdankte Obrigkeitshörigkeit erweisen? Welche Gestalt des Protests konnten Rebellion oder Widerstand annehmen, wie schmal war der Erfahrungs- und Imaginationsraum, in dem sie sich bewegten? Wie tief saßen die lange eingebrannten autoritären Strukturen? Gab es Chancen, im Ernstfall anders als Michael Kohlhaas zu handeln bei ausbleibender, durch öffentliche Einschüchterung verhinderter Solidarität? Wie, wenn die Aggressivität sich nach innen richtete, wenn statt Vatermord der Suizid am Ende stand?

In die Rue Molitor zum Tee eingeladen zu werden war, auch in der Wiederkehr, ein Ereignis, auf das man sich vorbereitete. Weit im Pariser Westen gelegen, war das erste, was in der großen Bel-Etage-Wohnung auffiel, eine enorme Bücherwand, die den Flur in seiner ganzen Länge begleitete. An einem Herbst-Nachmittag 1977 - so erinnert sich der Schreiber dieser Zeilen, damals Lektor an der Sorbonne - wies Minder auf die oberen Reihen des Regals, voller gebundener Exzerpte: Das seien seine handschriftlichen Auszüge aus württembergischen Kirchenbüchern, die wohl nie mehr jemand auswerten würde. Ganze Genealogien von Pfarrerfamilien mit ihren Verästelungen habe er seinerzeit als Vorarbeit für den zweiten Teil seiner Studie "Allemagnes et Allemands" verzeichnet, in dem Schwaben im Zentrum stehen sollte.

Beim Gang in sein Arbeitszimmer wies er auf einen gelben Band, der aufgeschlagen und mit Anstrichen übersät auf seinem Schreibtisch lag: Bernward Vespers "Die Reise", soeben erschienen. Die Vorfahren Gudrun Ensslins, mit der Vesper einen kleinen Sohn habe, seien mit Hegel verwandt, erfuhr der Gast; und an die übertriebene Reputation des Nazi-Dichters Will Vesper in den 1930er-Jahren könne er sich gut erinnern. Dass der Sohn sich mit protestantischer Gründlichkeit an seinem Vater aufgerieben habe, bis zum Ende in der Psychiatrie und als Drogenopfer, sei eine der schlimmen deutschen Folgerichtigkeiten. Solche tragischen Biografien, so ließ er ernst durchblicken, seien ihm sehr vertraut - nicht erst seit seinen Forschungen über Karl Philipp Moritz. Dass Protestantismus aber auch ohne Düsterkeit zu haben sei, nämlich in Verbindung mit Aufklärung, Musik, intellektueller Neugier und progressivem Veränderungswillen - das erfahre er jedes Mal beim Umgang mit Albert Schweitzers Nachlass, im elsässischen Günsbach.

Sucht man nach den Wurzeln von Minders vor einem halben Jahrhundert erschienenen Essay "Das Bild des Pfarrhauses in der deutschen Literatur", stößt man als "Urzelle" auf das Pfarrhaus Albert Schweitzers am Straßburger Nikolasstaden, auf den Klavierunterricht Minders bei dem großen Organisten und auf den Beginn einer Art Vater-Sohn-Freundschaft.

Schweitzer, der Musiker und Musikwissenschaftler, der Theologe, der Arzt, der Moral- und Kulturphilosoph: Fast alle Bereiche, die Minder künftig interessieren werden, sind hier versammelt. Die Atmosphäre im Pfarrhaus ist die einer nüchternen Herzlichkeit. Das heißt etwa beim Üben: der Partitur und ihren Angaben verpflichtet sein, genaues Durchdringen des kompositorischen Aufbaus vor jeglicher Interpretation und Verzicht auf Pedal. Übertragen bedeutet das eine genaue Fragestellung und eine Fixierung des Problems (etwa eines psychologischen) statt vorschneller Auslegung.

Eine zweite Wurzel für das Interesse am evangelischen Pfarrhaus und seiner breiten und langfristigen kulturellen Wirkung ist das Faktum, dass Minder, nach mehrjährigen Studien in Paris, als Lehrender zu einem Zeitpunkt an die Straßburger Universität zurückkehrt (1927), als sich die künftig bedeutende "Annalen"-Schule der französischen Historiker gerade bildet. Ihr bekanntester Kopf, Lucien Febvre, veröffentlicht 1928 seine Studie "Martin Luther", die den sich emanzipierenden Augustinermönch in den politischen, sozialen und ökonomischen Kontext einbettet. Aus diesem Umfeld sucht sie die Stoßkraft seiner reformatorischen Schriften zu analysieren: als Anstoß einer Bewegung, deren Wirkung sich verselbständigt, die, lax gesagt, zum Selbstläufer wird, sich im Verlauf für verschiedenste Ziele instrumentalisieren lässt und doch immer wieder - so die Fortführung bei Minder - zurückweist auf das Pfarrhaus als je lokalen Kern: ein intaktes, ganzheitliches Ensemble von Bildung und Bürgerlichkeit, von Geborgenheit in Familie und Musikalität, Naturverbundenheit, mit hohen Ansprüchen an Arbeit, Beruf, Zucht und Moral; der Gemeinde und dem Staat verbunden, apolitisch obrigkeitsfromm, aber das antirömische Feindbild bei Bedarf mobilisierend; später dann, wie selbstverständlich, deutschnational.

Ein Jahr nach Febvres "Luther" war in Berlin Ernst Kretschmers stark beachtete Studie "Geniale Menschen" erschienen (1929). Der Psychiater, selbst Pfarrerssohn, sah in den evangelischen Pfarrerfamilien das für Deutschlands Dichter und Denker wertvollste Vererbungspotential; rund die Hälfte der seit dem 18. Jahrhundert in deutscher Sprache sich ausdrückenden Schriftsteller und Philosophen, überhaupt der Gelehrtenintelligenz, stamme aus dem Pfarrhaus; zu einer regelrechten Ballung sei es im Südwesten, im württembergischen Raum gekommen, in Schwaben.

Verständlicherweise griff der Pfarrerssohn Gottfried Benn die These gern auf: dazuzugehören und gleichzeitig, als Nietzscheaner, Distanz halten zu können - eine ideale Bestimmung des eigenen geistigen Orts. Seinen autobiografischen Zwischenbericht, in dem er Kretschmers Thesen aufgriff, "Lebensweg eines Intellektualisten", veröffentlichte er 1934; Robert Minder, seiner Moritz-Studien wegen häufig in Deutschland und durch Albert Schweitzer längst für den Gesamtkomplex sensibilisiert, hat Benns "Lebensweg" gekannt. Weitere Anregungen gewann Minder aus den Schriften des literatur- und religionssoziologisch arbeitenden Anglisten Herbert Schöffler. Zu dessen Themen gehörten "Protestantismus und Literatur" und die "Wirkungen der Reformation". Die Sozialgeschichte des literarischen Lebens konnte Schöffler, ein ausgezeichneter Kenner des 18. Jahrhunderts, partiell auf die Wirkung des Pfarrhauses zurückführen.

Fast gleichzeitig mit der zweiten Auflage von "Protestantismus und Literatur" erschien 1958 die Habilitationsschrift "Säkularisation als sprachbildende Kraft" des Göttinger Germanisten Albrecht Schöne. Schöne untersuchte die Sprachform in den Dichtungen deutscher Pfarrerssöhne. Minder hingegen bestimmte sein Ziel so: "Es sollen im Überblick nur die Bilder aufgezeigt werden, die im Gesamtbewusstsein weitergewirkt und die Anschauung vom Pfarrhaus bestimmt haben". Damit war die Richtung gegeben: eine Verdichtung von mentalitäts- und rezeptionsgeschichtlichen Beobachtungen, die so bilderreich, gegenständlich und geschliffen zugleich zu sein hatten, dass für Deutschland Typisches gleichsam wie in einer Erzählung vorstellbar würde. Das schloss nicht aus, die Neigung zur biedermeierlich verklärenden Idylle, oder umgekehrt: zur Glorifizierung und Selbstnobilitierung der Protagonisten, kritisch zu sezieren. Was hat das kollektive Bewusstsein aufgenommen und bewahrt? Was gewann, wann und warum, Breitenwirkung? Das konnte, musste aber nicht große Dichtung sein, es galt, die Scheidewand zur Unterhaltungsliteratur porös zu halten.

Dass das Bündnis von Thron und Altar erhebliche Mitschuld trug an der verspäteten Emanzipation großer Bereiche der deutschen Gesellschaft, stand für den elsässischen Republikaner außer Frage. Für den politischen Missbrauch von Religion, auch wenn er im künstlerischen Gewand einherkam, hatte er schon früh empfindliche Antennen ausgebildet, erst recht für heroisch geschminkten Chauvinismus. Die spätere Unbestechlichkeit im Urteil, gerade wenn er auf historische (oder aktuelle) Befunde stieß, bei denen Heuchelei nur ästhetisch übertüncht war, hielt er, aller Phraseologie abhold, für moralische Pflicht.

Bei allem Anspruch auf Objektivität ist die Favoritenrolle, die Minder Jean Paul einräumt, nicht zu übersehen. Auch im Gespräch konnte er über die Spannweite seiner Prosa in eine Art unterkühltes Entzücken geraten. Die "Selbsterlebensbeschreibung" des Predigersohns Jean Paul war einer seiner Vorzugstexte. Über die Polarität seiner kosmischen Visionen und der Neigung zur "Verpuppung" im Winkelhaften, dem imaginären Aufschwung ins All des Weltenschöpfers und das (satirisch und doch voller Mitgefühl geschilderte) Sicheinrichten in knechtischen Verhältnissen, das Wechselspiel zwischen Hochmut und Verzagtheit - theologisch vorgebildet als die Ambivalenz von Erlösung und Verdammung - sprach Minder gern und mit mehr als einem Hauch von existentieller Beteiligung.

Die Konzentration auf den Zeitraum zweier Jahrhunderte in seinem Essay - von 1750 bis 1950 - lag nahe: der Beginn der neueren deutschen Literatur hat zu tun mit der ohne Aufklärung und Sturm und Drang schwer vorstellbaren Verwandlung der Pfarrersöhne in Musensöhne. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum war die prägende Kraft des Pfarrhauses weithin erschöpft; auch hätte in der DDR eine atypische Linie verfolgt werden müssen. Zum ersten Mal seit der Reformation standen die Geistlichen den Herrschenden nicht als Amtsträger zur Seite, sondern in Opposition gegenüber, verzichtete der Staat, in atheistischem Selbstverständnis, auf die "ideologische" Unterstützung durch Kirche und Pfarrhaus; die suchte sich umgekehrt der Kontrolle (mit unterschiedlichem Glück) zu entziehen und versuchte, Oppositionellen Raum zu bieten.

Gegen Ende seines Essays hat Minder ein Zitat platziert, dessen Geltung sich in seinen Augen sicher nicht auf das "Dritte Reich" beschränkte: "Wer wollte dem Deutschen bestreiten", schreibt der Pfarrer Dietrich Bonhoeffer im Winter 1942/43, "dass er im Gehorsam, im Auftrag, im Beruf immer wieder das Äußerste an Tapferkeit und Lebenseinsatz vollbracht hat? [...] Aber damit hat er die Welt verkannt; er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Bereitschaft zur Unterordnung, zum Lebenseinsatz für den Auftrag zum Bösen missbraucht werden könnte".

Der Pfarrhaus-Essay, den Minder in der Mainzer Akademie für Sprache und Dichtung im April 1959 zunächst als Vortrag hielt, bündelt Strahlen eigener und fremder Forschung wie in einem Brennglas. Er hat ein Dutzend weiterer Spezialstudien angeregt, die indes ein Fachpublikum visieren und sich wenig hinauswagen über die selbstgesetzten, meist regionalen Grenzen. Essays wie die Minders, bei denen die Interdisziplinarität nicht Vorsatz sondern längst in Fleisch und Blut übergegangen ist, die ihren Charme in der Vielfalt der Perspektiven und ihrem bewusst komponierten Wechsel der Töne entfalten, die sehr bewusst spielen mit der Außen- und Innenansicht ihrer Gegenstände, entstehen eben leichter in einem Land, das einen Montaigne hervorgebracht hat. Dass Minder als gleichsam natürlicher Mittler zwischen Deutschland und Frankreich Geist und Esprit miteinander verband, ist: ein Glücksfall.