Angriffslust und Sprachkritik

Robert Minders „Heidegger oder die Sprache von Meßkirch“ als „große Polemik unserer Zeit“

Von Thomas MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Meyer

Das würde heute kein Zeitungsredakteur mehr durchgehen lassen: ein Viertel des kostbaren Platzes verschwenden, um eine komplizierte Geschichte zu erzählen und dabei kein Wort zum Thema oder zum Autor des zu besprechendes Buches zu verlieren. 1967 durfte das einer wie Hans Mayer selbst im „SPIEGEL“. Der einzigartige Mayer zeigte ein Buch an, das seit seinem Erscheinen ein Jahr zuvor Furore machte: „Dichter in der Gesellschaft“ von Robert Minder. Natürlich ging es in der Essaysammlung um Johann Peter Hebel, einer der Hausgötter des deutsch-französischen Vermittlers. Auch andere, sogenannte „schwierige“ Autoren, wie Jean Paul oder Friedrich Hölderlin, wurden gewürdigt, jenseits der naiven Metaphysik und leeren geistesgeschichtlichen Geste, zu der sich in dieser Zeit die Benno von Wieses und Emil Staigers der Zunft aufschwangen. Und selbstverständlich war der enge persönliche Freund Alfred Döblin vertreten, aber auch Analysen zu einer „Randfigur bei Fontane“ und – noch heute ein Meisterstück – „Brecht und die wiedergefundene Großmutter“. Das alles wusste Mayer zu würdigen. Doch im Mittelpunkt des Bandes stand ein Essay, den der stets stilsichere intellektuelle Kosmopolit und Historiograf der literarischen Zwischenform namens „Essay“ in seiner Bedeutung sofort erkannte: „Dies ist die große Polemik in unserer Zeit.“

Das große Wort war nicht zu hoch gegriffen, denn Minders „Heidegger und Hebel oder die Sprache von Meßkirch“ ist in der Doppelung von Angriffslust und präziser Sprachkritik bis heute nicht übertroffen. Jüngste Versuche, Heidegger am Zeug zu flicken, leiden nicht zuletzt an der völligen Verfehlung, den Philosophen mit seinen geistigen Herkünften zu konfrontieren. Bloßes Aneinanderreihen von Entgleisungen ergibt noch kein Argument. Das war bei Minder anders. Er unterlief, da als Germanist sowieso nicht satisfaktionsfähig, die Ansprüche des Seinsdenkens und verschrieb der Begrifflichkeit Heideggers eine Etymologie, die diesem nicht gefallen konnte. Hermann Burte statt Aristoteles – das war starker Tobak, der sich durch Evidenzen rechtfertigen konnte. Vielleicht hatte aber auch Minder einfach nur einen in der Kant-Philologie mit Ignoranz bedachten Satz aus der „Kritik der reinen Vernunft“ im Sinn. Der große Königsberger schrieb nämlich: „Neue Wörter zu schmieden ist eine Anmaßung zum Gesetzgeben in Sprachen, die selten gelingt, und ehe man zu diesem verzweifelten Mittel schreitet, ist es ratsam, sich in einer toten und gelehrten Sprache umzusehen, ob sich daselbst nicht dieser Begriff samt seinem angemessenen Ausdrucke befindet“.

Minders Verfahren ist aber nicht auf die bloße, im wörtlichen Sinne Erdung Heidegger’scher Höhenflüge ins von der überlieferten Philosophie sich noch einmal absetzende „Denken“ beschränkt. Vielmehr zieht er einen Zaun um Hebel, den er, wie Walter Benjamin und Ernst Bloch – wie unermüdlich von Richard Faber hervorgehoben – der Aufklärung zuschlägt, den er mit Frankreich, mit Offenheit und Freiheit in Verbindung bringt. Für Minder ist Hebel kein Heimattümmler, der sich in den Boden versenkt, weil dort im Alemannischen das Sein entspringt. Heideggers Vereinnahmungsversuch, samt seiner Stilisierung als desjenigen, der nur mit den Bauern Todtnaubergs das Eigentliche zu erschauen vermag, erhielt in Minder eine provozierende Abfuhr.

Sie überzeugt in ihrer genauen Begrenzung auf den Gegenstand daher weit mehr als die Rede vom „Jargon der Eigentlichkeit“ Theodor W. Adornos. Letzterer hatte mit Minder eng zusammengearbeitet, um Heidegger herauszufordern. Man traf sich in Frankfurt am Main und Paris, um nach Wegen zu gucken, der „Heideggerei“ (Adorno) ein Ende zu bereiten. Doch während Adorno an die Stelle von Heideggers „Jargon“ einen eigenen setzte und somit seiner Polemik selbst das Fundament entzog, war Minder souveräner. Die Souveränität speiste sich aus einer genauen Kenntnis des Materials (die zentrale Forderung Adornos in seiner großen, fragmentarischen Beethoven-Monografie). Er weiß den späteren Erzbischof von Freiburg, Conrad Gröber, genauso einzuordnen – heute muss da natürlich aufgrund der Archivlage vieles anders gesehen werden – wie Anton Gabele, den Autor von Heimatschmonzetten. Minder kennt die untergründigen Spuren Abraham a Santa Claras bis in Heideggers Gegenwart. Vor allem aber gelingt es ihm, den nach 1945 wieder aktiven Philosophen und mit Hilfe neuer „operativer Begriffe“ (Eugen Fink) sich äußerst sichtbar machenden Denker an seiner schwächsten Stelle zu treffen: dem hohen Ton. Anders als in seinen großen Vorlesungen der 1920er- und frühen 1930er-Jahre und natürlich in dem Jahrhundertbuch „Sein und Zeit“ (1927) hat Heideggers zeitweilige, freiwillige Kooperation mit dem Nationalsozialismus und die Weigerung, dazu irgendetwas sagen zu wollen, den Resonanzboden für die neue Rhetorik verändert. Heidegger will das nicht wahrhaben, sucht Anschluss an die konservative Stimmung, empfiehlt sich und den anderen die Teilnahme an einer neuen „Gelassenheit“, wie Daniel Morat wunderbar herausarbeitete. Doch Minder will ihn dabei stören, will das Hohle der Gesten herausstellen und Heidegger dadurch zwingen, den begangenen Verrat an der Philosophie einzugestehen. Gleichzeitig verstellt Minder, das hatten wir ja schon, den eingeschlagenen Weg, die Flucht ins vermeintlich kleine Heimatliche, eben in Hebels Erzählwelt.

Hans Mayer schrieb 1967: „Abermals präsentiert sich Minder im polemischen Kampf mit der Sprache und dem Sprecher von Meßkirch als Zauberer.“ Dem haben wir nichts hinzuzufügen!