Die alten Männer und das Meer

Wanderungen durch Erinnerungslandschaften mit Cees Nooteboom

Von Nadine IhleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Ihle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eine der Eigentümlichkeiten des Altwerdens besteht darin, daß fast alles eine Erinnerung wachruft." Sinnierte Cees Nooteboom in seiner autobiografischen Reisebeschreibung "Roter Regen" noch über das eigene Altern und sich Altfühlen, über die Frage, wo all die Momente geblieben sind, die nicht Erinnerung geworden sind, so setzt er diese Gedanken in seinem neuesten Buch "Nachts kommen die Füchse" konsequent in Literatur um.

Der schmale Band enthält acht Erzählungen von Nooteboom, in denen die für ihn so typischen Motive auftauchen: alte Männer und junge Frauen, alte Frauen und junge Männer, Inseln, Alkohol in überschwänglichem Maße, die großen und kleinen Dramen zwischenmenschlicher Beziehungen. Eigentlich Versatzstücke, sollte man meinen, die so klischeeüberfrachtet sind, dass sich nur mühsam etwas Neues, Anregendes daraus erschaffen lässt.

Aber Nooteboom gelingt dieses Kunststück, und zwar durch zweierlei: den erzählerischen Kunstgriff, jede Geschichte aus einem Foto entstehen zu lassen, und zum zweiten durch seine melodiöse Spracheleganz. Er erzählt in Sätzen, die ebenso schlicht wie überbordend sein können, ebenso banal wie tiefgründig, niemals festgelegt auf irgendeine Erzählkonvention, niemals irgendeinem Zeitgeist, sondern stets dem eigenen Klang, der eigenen Stimme verpflichtet.

Die Erzähler wechseln von Geschichte zu Geschichte: Ein Mann, der unter dem Deckmantel seines Berufes nach Venedig fährt, um dort einer kurzen Episode seines Liebeslebens nachzuspüren; ein Ehepaar, das beim Ausgehen einen grauenhaften Unfalltod gemeinsam miterlebt; ein Mann, der seine Gesundheit systematisch zugrunde richtet; eine Frau, die mehr mit ihrer toten Freundin verbindet als mit den Liebhabern; eine Frau, die vor dem ungeliebten Mann in die Natur flüchtet; und dann Paula, erzählt aus zwei Perspektiven, sowie zu guter Letzt eine Geschichte, die nicht so heißt, aber wie ein Epilog zum "entferntesten Punkt" führt - dem Ort des Sterbens nämlich.

Denn darum geht es - Nooteboom nutzt in jeder der Geschichten eine Fotografie, um die Toten sichtbar zu machen, um das Verhältnis der Lebenden, der Zurückgelassenen, der Überlebenden zu ihren Toten zu versinnbildlichen. Freilich bleibt die Wirkung der Geschichten nicht beim schlichten Memento Mori im Anbetracht der verstorbenen Ehemänner, Freundinnen oder Lebensbegleitern. Die Erinnerungsreisen seiner Figuren werden zu Reisen in ihr eigenes, tiefstes Ich, in ihre eigenen Biografien. Dies geschieht mal mehr und mal weniger intensiv. Die beiden dichtesten und tiefsten Erkundungen sind wohl die Geschichten, deren Titel schlicht die toten Hauptfiguren benennen: "Heinz" und "Paula" beziehungsweise "Paula II". Es sind die komplexesten Erzählungen und freilich auch die längsten, die einzigen Geschichten, die - abgesehen von dem verstecken Epilog - aus der Ich-Perspektive geschrieben sind.

Gäbe es "Paula II" nicht, würde man den Erzählband vielleicht wirklich abtun als eine Auseinandersetzung eines alternden Schriftstellers mit dem eigenen Lebensabschnitt. Aber so einfach macht es Nooteboom sich selbst und dem Lesenden nicht.

In einer ersten Version wird Paula zum Leben wiedererweckt mit den Erinnerungen, ikonografischen Beschwörungen eines ihrer ehemaligen Liebhaber. Der Ich-Erzähler erinnert sich in einer inneren Zwiesprache mit der Toten an die weit entfernte Zeit, in der er zusammen mit ihr und anderen Freunden die Welt erobern wollte. Sie tranken zusammen, spielten zusammen, und Paula war ihrer aller Geliebte. Ein mysteriöses Wesen, unnahbar und omnipräsent für alle Männer, der perfekte Prototyp einer Femme fatale, die Erfüllung all ihrer Phantasien. Und am Ende verlieren sie alle Paula, sie verlässt sie für einen aggressiv wirkenden Fremden, eine Zufallsbekanntschaft, der mit einer scheinbar willkürlichen Geste den anwesenden Freunden ihre Geliebte raubt. Nooteboom zeichnet diese Projektion, diese Anbetung, dieses auch nach Jahren immer noch nicht erloschene Verlangen nach einer Erinnerungsikone so intensiv und dicht, dass man sich schon beim Lesen von "Paula" unentwegt fragen muss, welche Erinnerungen an diese Zeit wohl Paula selbst mit sich trägt, welche Geschichte sie wohl erzählen würde. Und in diesem Moment setzt der Kulminationspunkt des ganzen Buches ein: Nooteboom bringt die Tote selbst zum Sprechen. Er lässt sie als Tote erzählen, lässt ihre Erinnerungen zurückkehren, weil sie von den Erinnerungen des Mannes gerufen wurde, verleiht ihr eine suchende, aber auch eine erklärende Stimme. Und auf einmal erscheint auf diese Weise das Bild einer klugen, nachdenklichen Frau, die sich als sozialer Ankerpunkt im Gleichgewicht der Freundesgruppe verstanden hat, die um ihre Rolle als Projektionsfläche nur zu gut wusste und ihrerseits Geborgenheit, Zuflucht und Liebe selbst einzig in den Armen einer anderen Frau fand. Und damit fügt sich das Thema des Buches quasi wie von selbst zusammen: Es ist eine lebensgeschichtliche Banalität, dass die Toten erst dann wirklich tot sind, wenn sich niemand mehr an sie erinnert. Aber durch Paula gewinnt das Buch eine weitere Erkenntnis, nämlich dass das Erinnern für die Lebenden wichtiger ist als für die Toten, dass Erinnerung immer eine Sache der Lebenden ist und dass ohne Erinnerung keine menschlichen Gefühle möglich sind. Alles keine neuen oder umwerfenden Erkenntnisse - aber die Sprache Nootebooms in ihrer eleganten Dichte entwickelt in diesem Thema eine faszinierende Strahlkraft.

So sind die sonnigen Inselwelten Nootebooms einmal mehr literarischer Fluchtpunkt, allerdings münden sie hier in dem tosenden Meer, dem brüllenden Sturm, in der Nacht der Füchse, vor der sich jeder fürchtet und der jeder alleine entgegengeht. Zusammen ergeben die Reiseerzählungen aus "Roter Regen" und die literarischen Erzählungen aus "Nachts kommen die Füchse" ein sich ergänzendes, verstärkendes Werk eines Autors, der, ebenso leise wie kraftvoll, eine der großen Stimmen der europäischen Literatur ist.


Titelbild

Cees Nooteboom: Nachts kommen die Füchse. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
152 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420669

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