Eigentümliche Prägnanz

"Das Verborgene Museum" präsentiert eine der großen Fotografinnen der zwanziger Jahre: "Die Riess"

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihre Fotografien sind noch bekannt, in Fotografenlexika findet man sie, aus dem kulturellen Bewusstsein ist Frieda Riess jedoch, einer der besten und prominentesten Fotografinnen der 1920er-Jahre verschwunden. Anders als August Sander, Alfred Renger-Patzsch, Karl Blossfeldt oder Paul Wolff ist Frieda Riess heute kein Name mehr, den man kennt und der mit bestimmten Fotografien, einem bestimmten Werk, einem Stil oder mit besonderen Themen verbunden wird. Dabei gehörte ihr Atelier für etwa zehn Jahre, ungefähr zwischen 1922 bis 1932, zu den ersten Berliner Adressen, eine Gesellschaftsfotografin, die am Kudamm residierte und zu der die große Welt (mit einem Schwerpunkt Literatur) kam, um sich fotografieren zu lassen. Gottfried Benn, Emil Jannings, die Hauptmanns, Max Herrmann-Neiße, Klaus Mann, Pamela Wedekind, Hans Poelzig - alles, was in der Kultur und Gesellschaft der Weimarer Republik Rang und Namen hatte, kam ins "vornehme Atelier" der Riess, wie Peter Sprengel es im hier vorzustellenden Band nennt, um sich ablichten zu lassen.

Es ist die Inszenierung ihrer Modelle, die sie binnen weniger Jahre in die erste Reihe der Fotografen katapultierte. Denn die Handschrift der Frieda Riess ist unverkennbar. Dabei sie ist darauf konzentriert, ihre Modelle auf widersprüchliche Weise zu sich selbst kommen zu lassen. Sie lässt sie mit einer eigentümlichen Prägnanz aus dem Bildhintergrund treten, die in einem merkwürdigen Gegensatz zu Hintergrund, zum Schattenwurf und zu den Unschärfen steht, mit denen sie ihre Porträts zu inszenieren pflegte.

Die Fotografie Max Herrmann-Neißes, die sie 1922/23 in einer Ausstellung auf der Budapester Straße zeigt, ist eines der großartigen Exempel der Arbeitsweise Frieda Riess'. Lediglich Stirn, Augen, Nasenansatz, Brille und - abseits davon - die linke Hand sind in Licht getaucht und von der Tiefenschärfe erfasst. Der Rest der Fotografie verschwimmt in der dunkelgrauen Fläche des Dreiteilers, den Herrmann-Neiße trägt, des Schattens, in den er getaucht ist, und der Unschärfe, die alles das verschwimmen lässt. Max Herrmann-Neiße selbst hat sich angesichts dieser Fotografie zu dem Satz hinreißen lassen, dass, wer dieses Bild sehe, ihn erkennen werde.

Das aber sei, so Herrmann-Neiße in seiner Ausstellungskritik, die Aufgabe des Porträts, nämlich die "phantasievolle Durcharbeitung" des Objekts. In anderen Fotografien kehrt dieses Prinzip wieder. Riess' stilistische Handschrift ist so klar zu erkennen, dass Max Herrmann-Neiße neben André Gide, Klaus Mann, Kurt Pinthus oder Gottfried Benn tritt, mit dem Riess in den frühen 1920er-Jahren liiert war und der ihr ein Gedicht gewidmet hat. Autoren treten zu Autoren, Repräsentanten der Gesellschaft zu den Repräsentanten der Gesellschaft, Schauspieler zu Schauspielern und Tänzer zu Tänzern. Sie alle inszeniert sie auf eine jeweils besondere Weise, individualisiert sie damit und fügt sie doch zugleich zu Gruppen zusammen, die von ihren Fächern, Berufen und Rollen gebildet werden.

Diese Spannung zwischen Subjekt und Sujet, Einzelnem und Gruppe kennzeichnet ihre Fotografien, ohne dass es ihnen die Wirkung nimmt (am Beispiel Herrmann-Neißes): Der Autor scheint auf dem Foto ganz bei sich selbst und identisch mit seinem Werk zu sein. Er signalisiert eine Ernsthaftigkeit, die freilich nicht nur eigenes Bekenntnis ist, sondern zugleich Signum seines Berufs und gefordertes Klischee - eine Inszenierung, die auf den Punkt kommt, an dem die Oberfläche Essenz zu werden scheint, dabei aber vor allem den Widerspruch zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, zwischen der Zufälligkeit der individuellen und der Inszenierung einer gewollten Existenz präsentiert. Zweifelsohne ist ein Gesicht nur ein Gesicht, und dennoch wird es hier als das Gesicht des Dichters, das des Schauspielers, das der Tänzerin, das der Dame oder des Herrn von Welt präsentiert.

Damit sind die Fotografien Frieda Riess' weit entfernt von dem Gestus der Neuen Sachlichkeit, die die Inszenierung zu Gunsten der zufälligen Präsenz zu vernachlässigen versucht (ohne dass das je gelingen könnte). Ihre Konzentration auf die Atelierfotografie, die den von Marion Beckers und Elisabeth Moortgat verantworteten Katalog mit zahlreichen Exempeln dominiert, ist deshalb konsequent. Nur im Atelier sind der Inszenierungscharakter und der Fokus auf das Modell stark genug, um die enorme Wirkung zu erzielen, die die Fotografien Frieda Riess' auszeichnet.

Frieda Riess, 1890 in Czarnikau/Czarnków geboren, seit 1898 in Berlin lebend, gehörte nicht zu den fotografierenden Seiteneinsteigern, sondern hat ihr Fach gelernt: Sie begann 1913 mit einer Ausbildung zur Fotografin an der fotografischen Abteilung des Lettevereins. Spätestens 1917 bezog sie ihr Atelier am Kurfürstendamm, von Beginn also an einer der prominenten Adressen des Neuen Westens. Schnell erreichte Frieda Riess einige Bekanntheit, Zeitschriften wie "Die Dame", "Querschnitt", die "Berliner Illustrirte Zeitung" und die Bildbeilagen der renommierten Tageszeitungen der Zeit publizierten ihre Fotografien. Ihre erste Einzelausstellung 1922/23 machte sie nicht nur gesellschaftsfähig, sondern führte auch zu ihrer breiten künstlerischen Anerkennung. "Die Riess" wird zu einer der bekanntesten Fotografinnen der Zeit, bis sie 1932 nach Paris übersiedelte und anscheinend die Fotografie aufgab. Mit dem Wegzug (vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten) verschwand Frieda Riess auch aus der deutschen und internationalen Kultur. Sie starb, vereinsamt und seit langen Jahren schwer erkrankt, in den 1950er-Jahren.

Marion Beckers und Elisabeth Moortgat haben nun mit der Ausstellung des "Verborgenen Museums" in der Berlinischen Galerie und dem dazugehörigen Katalog das Werk Frieda Riess' wieder in die kulturelle Öffentlichkeit und in die Fotografiegeschichte zurück geholt. Günstig gefügt hat sich, dass ihr Werk vor allem durch eine Sammlung von 300 Fotografien beim Ullstein Bilderdienst, mit der kleinere Sammlungen (etwa des Deutschen Literaturarchivs) ergänzt werden konnten, zugänglich war. Die beiden Herausgeberinnen können so ein breites Spektrum von Aufnahmen vorstellen, die im (zweisprachigen) Katalog mit zahlreichen Materialien und Beiträgen kombiniert, kommentiert und präsentiert werden. Dafür ist zu danken.


Titelbild

Elisabeth Moortgat (Hg.) / Marion Beckers: Die Riess. Fotografisches Atelier und Salon in Berlin. 1918-1932.
Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen 2008.
236 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783803033260

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