Geschaute Leben - spiegelnde Pailletten

Philippe Blasbands Portrait einer jüdischen Familie

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vier Generationen, drei Länder, die ewige Flucht und den Tod verbindet Philippe Blasband in seinem neuesten Roman gekonnt wie selten: Spätestens seit dem Film "Eine pornographische Beziehung", für dessen Drehbuch der Belgier verantwortlich zeichnete, ist er bekannt als Meister der konstruierten Irritationen.

In 13 Portraits entfalten sich die Charaktere der einzelnen Familienmitglieder; Widersprüche sind augenscheinlich und bleiben unaufgeklärt. Dennoch berühren die verschiedenen Lebensgeschichten: Der im Sterben liegende Élie, Familienoberhaupt seit der frühen Jugend und der Flucht aus Polen, sammelt seine Familie ein letztes Mal um sich. Dies gibt den losen Handlungsrahmen vor. Sein an Aids erkrankter Enkel Ernest beginnt mit der Sammlung von Familienportraits, um Zalmans Album zusammenzustellen, ein Album, in dem jedes Familienmitglied sein Leben, seine Sehnsüchte und seinen Blick auf die Welt festhält. Das Bild der einzelnen Familienmitglieder setzt sich aus den Beschreibungen der anderen zusammen. So entsteht ein Kaleidoskop des jeweiligen Charakters, Fehlinterpretationen nicht ausgeschlossen. Der Leser bekommt keine vorgefertigte Biografie geliefert, der Autor zwingt ihn vielmehr zur Distanz, aus der heraus er sich selber ein Bild aus Fragmenten machen muss. Die sich widersprechenden und überschneidenden Angaben der einzelnen Familienmitglieder schillern und spiegeln sich, so dass der Betrachter am Ende vor einem Scherbenhaufen zu stehen glaubt - oder besser: vor einem paillettenbestickten Erzähltorso. Dabei verfällt Blasband nicht der Gefahr einer unangemessenen Dramatisierung, seine Protagonisten wirken immer glaubhaft. Fotos, die nur beschrieben, nicht gezeigt werden und den jeweiligen Lebenserinnerungen vorausgehen, lassen dem Leser Raum für Imagination.

Überhaupt ist das Buch fast ausschließlich deskriptiv und schafft so seine Mythen, es gibt keine Erklärungen. Den Beginn macht der "Stammvater" Zalman Rabinovitch. Als Rabbiner muss er feststellen, dass es nichts gibt, "der Allmächtige ist nichts". Obwohl er angesichts dieser Erkenntnis dem Alkohol verfällt, gelingt es ihm in letzter Minute, seine Familie vor einem Pogrom zu retten, auch wenn er selber stirbt. Durch die Generationen hindurch wird dieses Erlebnis zum Mythos, das Wissen um die Flucht geht den Jüngsten verloren - und mit diesem Wissen verliert sich auch der Glaube. Auf diese Weise greift Philippe Blasband geschickt die jüdisch-mystische Legendenbildung auf und reflektiert sie.

Der betont visuelle Erzählstil macht das Buch zu einer angenehmen Lektüre. Blasband hält die Handlungsfäden selbstsicher in der Hand, auch wenn sie sich teilweise ineinander verschlingen und man fürchten muss, dass ein unauflösbarer Knoten entsteht.

Interessant ist zudem der Wechsel zwischen verschiedenen Erzählstilen: je weiter sich das Buch dem Ende nähert, je jünger die Familienmitglieder werden, desto "moderner" wird die Sprache. Die langatmigen Abschweifungen der Urgroßmutter und die Prosaexperimente mit Zufallsgenerator durch den Informatiker Nathan sind dafür wohl die signifikantesten Beispiele. Diese Technik des sanften Erzählens verleiht den Figuren Gestalt und lässt sie für sich selber sprechen. Deshalb wirken die virtuosen Stilbrüche auch nicht gewollt oder gar künstlich, sondern entwickeln sich logisch mit dem Fortschreiten der Zeit.

Der Familienstammbaum am Anfang des Buches hilft, den Überblick zu bewahren, obwohl die strenge Chronologie - von den ersten Rabinovitchs zu den jüngsten - das ihre tut, um die Lektüre zu erleichtern.

Vereint sind die miteinander Rivalisierenden durch die Flucht: sie fliehen vor den Nazis, vor den Männern, vor den Erinnerungen und immer wieder vor der eigenen Familie. Das zweite prägende Thema ist der Tod: es umfaßt das Sterben des Urgroßvaters Zalmans und die bevorstehenden Tode von Élie und Ernest. Doch bei aller Nüchternheit gibt es am Ende Hoffnung, wenn der jüngste, soeben geborene Rabinovitch nur noch "Gerüche von Mama und Licht" wahrnimmt.

Titelbild

Philippe Blasband: Zalmans Album.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
248 Seiten,
ISBN-10: 3100071107

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