Vergifteter Kelch

In "Tod einer Untröstlichen" berichtet David Rieff über das Sterben seiner Mutter Susan Sontag

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1975 wurde bei Susan Sontag Brustkrebs im (damals als unheilbar geltenden) Stadium IV diagnostiziert, der biografische Hintergrund für ihren berühmten Essay "Krankheit als Metapher". Sie begann einen Kampf, der aussichtslos schien, unterzog sich einer Brustentfernung und einer damals noch weitgehend unerprobten Chemotherapie. In ihrem Tagebuch aus jener Zeit fand ihr Sohn später die Notiz, wie sich einmal eine Krankenschwester über sie gebeugt habe, um ihr die Lippen zu betupfen. "Jeder muss einmal sterben", habe ihr die Schwester dabei einfach gesagt.

Sterben aber wollte Susan Sontag nicht. Nicht 1975, und auch nicht 1998, als bei ihr ein Gebärmuttersarkom entdeckt wurde. Beide Male widerlegte Amerikas "letzte Intellektuelle" die Prognosen der Ärzte und triumphierte über den Krebs: mit ihrem unstillbaren Hunger nach Leben, ihrem Hass auf den Tod, der sie mit Elias Canetti verband, und der Bereitschaft, für ihr Überleben buchstäblich alles auf sich zu nehmen, jeden Preis zu zahlen, radikale Operationen und experimentelle Therapien mit ungewissem Ausgang inbegriffen.

Eine Erfolgsstrategie und mentale Stärke, die sich bei ihrer dritten Krebserkrankung 2004 auf grausame Weise gegen sie wandte. Für MDS, das Myelodysplastische Syndrom, eine besonders tödliche Form der Leukämie und tragische Folge ihrer letzten Chemotherapie, gibt es nur ein einziges Heilmittel, die Transplantation von Stammzellen. Die Aussichten für einen Erfolg waren bei einer Frau von 71 Jahren "praktisch gleich null". Medizinisch sinnvoll erschienen einzig palliative Maßnahmen zur "Verbesserung der Lebensqualität", wie es in den einschlägigen Patientenbroschüren verbrämt hieß.

Sontag unterzog sich dieser Therapie dennoch. Die Folgen waren schrecklich, und es zählt zu den Stärken der jetzt erschienenen Erinnerungen ihres Sohnes David Rieff an ihre letzten Tage, dass er auf diese Folgen nur wenige diskrete Schlaglichter wirft und das Übrige der Fantasie des Lesers überlässt. Susan Sontag "starb, wie sie gelebt hatte, unversöhnt mit der Sterblichkeit, auch nachdem sie so viele Schmerzen erlitten hatte".

Dass Rieff, in den USA ein renommierter politischer Journalist, ein Buch über das Sterben seiner Mutter veröffentlicht hat, wird viele zunächst skeptisch stimmen. Hierzulande zeigt der Fall Tilman Jens, wie leicht Bücher von Söhnen oder Töchtern, die ihre schwer kranken Eltern porträtieren, den Eindruck von Voyeurismus und Obszönität erwecken. Der Verdacht, hier finde ein verspätetes Stück Beziehungsarbeit statt, liegt nahe. Wer will, kann auch Rieffs Buch als Symptom einer eingestandenermaßen schwierigen Mutter-Sohn-Beziehung lesen.

Doch werden in diesen Erinnerungen voller Selbstzweifel und Schuldgefühle weit mehr als nur private Angelegenheiten verhandelt: Fragen nach unserem Umgang mit Sterbenden und unserer eigenen Vergänglichkeit, Fragen nach den Grenzen der Medizin und auch nach dem Wert von Wissen und Wahrheit. "Tod einer Untröstlichen" ist ein großes, ein mutiges Buch, so intensiv, schonungslos und erschütternd wie Joan Didions "Jahr des magischen Denkens".

Was Rieff am Beispiel seiner Mutter schildert, ist die Tragödie des modernen, wissenschaftsgläubigen Individuums. Von den Verheißungen der Religion oder ihrer New Age-Freunde, die "buddhistische Schutzkreise" um sie zogen, wollte Susan Sontag nichts wissen; sie vertraute allein der Vernunft. Scheinbar im Widerspruch dazu stand ihr irrationaler Glaube, die "große Ausnahme" von jeder Regel zu sein, einer jener Ausreißer, die noch in jeder Statistik zu finden sind. Allein dieses Vertrauen auf eine auf sie wartende bessere Zukunft hatte sie, so Rieff, ihre Kindheit und ihre Ehe überstehen lassen, hatte das "Projekt Susan Sontag" überhaupt erst ermöglicht. Vor allem aber hatte dieses Vertrauen, ihrer Ansicht nach, sie gleich zweimal den Krebs besiegen lassen. Warum also nicht auch ein drittes Mal?

"Wenn meine Mutter nur nicht so viel gehofft hätte", schreibt Rieff lapidar. Den Sohn hat das Sterben seiner Mutter vor allem eines gelehrt, die "Bedeutungslosigkeit des Menschen". Sein suggestiv-reflexiver, nur vage chronologischer Essay, seine vergebliche Suche nach Antworten in Sontags Nachlass spiegeln das unablässige Kreisen des Hinterbliebenen um die unbeantwortbaren Fragen wider: Hätte die Krankheit früher entdeckt werden können? Hatte seine Mutter, wie schon einmal 1998, ihrem Werk zuliebe die Alarmzeichen ihres Körpers überhört? Und vor allem: Hatte er selbst richtig gehandelt, indem er seine Mutter "nach Kräften in ihrer Weigerung unterstützte, die Möglichkeit, dass sie bei diesem dritten Mal an ihrem Krebs sterben könnte, auch nur in Betracht zu ziehen"?

Sontags behandelnder Arzt, ein Mann von charismatischer Ausstrahlung, dem Sontag bedingungslos vertraute, wie Rieff schreibt, glaubt noch heute, sie hätte eine reelle, wenn auch winzige Chance gehabt; andernfalls hätte er die Therapie nicht durchgeführt. Andere Onkologen, die Rieff nach dem Tod seiner Mutter befragte, sprechen von einer typischen "folie à deux" zwischen Arzt und Patient, die nichts als überflüssige Behandlungen zur Folge hat.

Seine eigene "Rolle in der Revolte meiner Mutter gegen den Tod" kannte Rieff genau: Von ihm habe sie, die stets auf Wahrheit bestand, bis zuletzt nichts hören wollen als vernünftig scheinende Gründe, warum ihr Kampf nicht sinnlos war. Warum sie trotz allem überleben würde. So kam es zu bizarren letzten Gesprächen voll von pseudowissenschaftlichen Lügen, bei denen er sich zu ihrem "Komplizen" machte und sich dabei "selbst fremd wurde". "Ständig schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Sie weiß wirklich nicht, was mit ihr los ist. Sie glaubt noch immer, dass sie überleben wird."

Doch ohne diesen Rest Hoffnung auf Begnadigung, glaubt Rieff, wäre Susan Sontag schlicht wahnsinnig geworden. So habe auch der Arzt nicht ihr Leben, doch in der ihr verbleibenden Zeit zumindest ihre geistige Gesundheit gerettet. "Trotzdem", heißt es am Ende, "frage ich mich, ob ich für sie nicht sogar alles noch schlimmer gemacht habe, indem ich den vergifteten Kelch der Hoffnung immer wieder neu füllte."


Titelbild

David Rieff: Tod einer Untröstlichen. Die letzten Tage von Susan Sontag.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446232761

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch