Orientalismus

Thomas Kramer beleuchtet in seinem Werk "Der Orient-Komplex" das Bild des Nahen Ostens in der europäischen und amerikanischen Geschichte und Gegenwart

Von Susan MahmodyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susan Mahmody

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Orient. Seit Jahrhunderten fasziniert dieses geografisch nicht eindeutig lokalisierbare Gebiet seinen "westlichen Gegenpol", den Okzident. Die Gefühle des Abendlandes dem Morgenland gegenüber schwanken dabei zwischen Anziehung und Abscheu, denn der Orient wird einerseits als fremd, statisch, geschichtslos, rückständig und verwildert dargestellt, versinnbildlicht aber gleichzeitig auch das Fantastische, Geheimnisvolle, Romantische und Erotische. Laut den Thesen des amerikanisch-palästinensischen Literaturwissenschaftlers Edward Said besteht der Orient gar nicht, sondern ist eine reine Konstruktion des "Westens", eine westliche Denkart, die zum Zweck der Selbstdefinition eine strikte Trennlinie zwischen dem "Eigenen" (Westen) und dem vermeintlich "Anderen" (Orient) zieht. Um die Pole "Eigenheit" und "Fremdheit" überhaupt festschreiben zu können, musste zunächst ein Bild des "Anderen" festgeschrieben werden, das in extrem vereinfachten und überspitzten oder aber gänzlich fiktiven Darstellungen präsentiert wurde. Alle in der "westlichen" Welt entstandenen Darstellungen des Orients sind laut Said Gegenstand des Orientalismus, des Diskurses über den Orient.

Diesen bei Said zentral stehenden Terminus greift Thomas Kramer in seinem Buch "Der Orient-Komplex. Das Nahost-Bild in Geschichte und Gegenwart" auf. Anhand eines Korpus an kulturellen Zeugnissen, der sich aus Werken zusammensetzt, die aus der Antike bis in die Gegenwart stammen, untersucht der Autor das spezifische Bild des Orients in europäischen und amerikanischen Medien. Während Said in seiner 1978 zum Thema erschienenen Studie "Orientalism" den deutschen Orientalismus gänzlich ausklammert und sich nur mit orientalistischen Manifestationen im französischen und britischen Kontext beschäftigt, bezieht Kramer das in Deutschland vorherrschende Orient-Bild explizit in seine Darstellung ein. Weiterhin interessiert ihn, wie sich der Diskurs rund um den Orient die Jahrhunderte hindurch entwickelt hat und wo die Wurzeln verschiedener heute noch vorherrschender Stereotype liegen. Auch die Verarbeitung historischer und kultureller Ereignisse, die für das Verhältnis zwischen Orient und Okzident bedeutend sind, in zeitgenössischen und aktuellen Medien, wird kritisch betrachtet. Das Spektrum der herangezogenen Zeugnisse und Themenkomplexe reicht dabei vom Bild der Perser im Werke der großen griechischen Dramatiker über die Präsentation der Kreuzzüge im Mittelalter bis zum Gebrauch orientalischer Stereotype in Klassikern von Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und Thomas Mann sowie den unzähligen Bearbeitungen orientalischer Stoffe in Werken der deutschen Oper des 17. und 18. Jahrhunderts. Kramer begnügt sich aber nicht mit einer Analyse akademischer und hochliterarischer Auseinandersetzungen mit dem Orient, sondern greift auch Beispiele aus der Populärkultur und Trivialliteratur heraus, wodurch Abenteuerromane des 19. Jahrhunderts ebenso besprochen werden wie Comics, Hollywood-Blockbuster und Computerspiele.

Diese Erweiterung des Blickwinkels und der respektvolle Umgang mit kulturellen Manifestationen jeglicher Art - ob nun der "hohen" oder der "niederen" Kultur zugehörig - gewährleisten eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Kramer illustriert des Weiteren, wie eng orientalisierendes Denken mit antisemitischen Vorurteilen verknüpft ist und unterstreicht diese Feststellung durch Beispiele aus dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus.

"Der Orient-Komplex. Das Nahost-Bild in Geschichte und Gegenwart" überzeugt durch seinen informativen Charakter und durch die tiefgründige Auseinandersetzung des Autors mit einem ebenso komplexen wie wichtigen Thema.


Titelbild

Thomas Kramer: Der Orient-Komplex. Das Nahost-Bild in Geschichte und Gegenwart.
Jan Thorbecke Verlag, Ostfilden-Ruit 2009.
250 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783799501972

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