Nelson und der Klavierlehrer

Silvio Huonders Roman "Dicht am Wasser"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein neunjähriger Junge kehrt nicht vom Musikunterricht heim, ein ganzes Dorf gerät daraufhin in Aufruhr. Dies ist der Handlungsrahmen des neuen, bis zur letzten Seite äußerst spannenden Romans aus der Feder des Schweizer Autors Silvio Huonder. Nicht zufällig spielt der Roman in einem verschlafenen Dorf vor den Toren Berlins, jenes fiktive Neumühl ist malerisch an einem See gelegen. Der gebürtige Graubündner Huonder lebt selbst in einem Dorf am Schwielowsee, kennt diese Gegend und die inhomogene Dorfbevölkerung wie seine Westentasche. Die Alteingesessenen und die "Buletten" - so werden die neureichen Stadtflüchtlinge (zumeist Pädagogen, Anwälte, Musiklehrer oder Unternehmer) aus Berlin leicht despektierlich genannt - leben als Nachbarn auf Distanz.

Der nur mäßig begabte Klavierschüler Nelson Petri verzögert aus Angst vor dem Vorspielen den Nachhauseweg und sieht seine Mutter Susanne, die einen Bioladen betreibt, in den Armen seines Musiklehrers Ballina. Nelson verschwindet, es weht ein schaurig klingender Wind über den See - eine Kulisse, wie sie Theodor Fontane abgelauscht sein könnte und deren Symbolik in einem drohenden Unwetter mündet. Der 55-jährige Silvio Huonder hat um diesen gespenstischen Wind eine lokale Sage erfunden und in die Handlung integriert. Im Mittelpunkt steht die untreue Müllersfrau Jule, die nach der Entdeckung ihres Seitensprungs vom eifersüchtigen Ehemann an einen Windmühlenflügel gefesselt worden sein soll.

Es ist nicht nur Nelsons Verschwinden, das die Dorfbewohner aufschreckt. Das starke Polizeiaufgebot löst eine kaum greifbare Unruhe aus, ein diffuses Gemisch aus Angst und Panik. In Neumühl dominiert die "heile Welt" ebensowenig den Alltag, wie in der Familie Petri. Nelsons älterer Bruder Tom probt den obligatorischen pubertären Aufstand und bringt seinen Vater Oschi, den Chef der dörflichen Marina, mit seinen Provokationen zur Weißglut. Der 16-jährige Tom hat sich nicht nur einer kleinkriminellen Jugendbande angeschlossen, sondern er verschandelt den sorgsam vom Vater angelegten Garten auch noch mit seiner "Spray-Kunst". Vater Oschi ist an die Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit gestoßen und spielt mit Suizidgedanken: seine Frau betrügt ihn, Nelson ist verschwunden und Tom kaum noch zu bändigen.

Mit seinem malerischen Ambiente scheint der gesamte Roman bis hin zum halb versöhnlichen, aber dennoch offenen Schluss von Silvio Huonder fernsehspieltauglich inszeniert worden zu sein. Am Ende wird Nelson gefunden, Tom will daraufhin seinen Vater verständigen, doch die versöhnliche Geste bleibt zunächst ungehört, "dann ging die Mailbox an und eine digitalisierte Frauenstimme sagte: ,Der gewünschte Teilnehmer ist im Augenblick nicht zu erreichen.'"


Titelbild

Silvio Huonder: Dicht am Wasser. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2009.
220 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004300

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