"Ich sehe was, was du nicht siehst"

Ein Sammelband spürt der "Erotik des Blicks" in der Medien- und Unterhaltungskultur nach

Von Fehmi AkalinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fehmi Akalin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich sehe was, was du nicht siehst" ist ein Kinderspiel, das man sinnvoll nur spielen kann, wenn man weiß, dass jeder anders und anderes sieht. Die Einsicht in die Beobachterabhängigkeit der Realität ist also die Voraussetzung für die Teilnahme an diesem Spiel. Und der permanente Rollentausch von Fragesteller und Antwortgeber sorgt dafür, dass sich dabei niemand als der ultimative 'Besserwisser' wähnen kann.

Im Grunde verdanken auch die Sozial- und Geisteswissenschaften einen Großteil ihres anfänglichen Erfolges ganz wesentlich der Promovierung dieser Blicktechnik. Sowohl Karl Marx als auch Sigmund Freud haben bekanntlich das Nichtsehenkönnen der anderen zum Ausgangspunkt ihrer Analysen gemacht, um die Gesellschaft und die Menschen zu therapieren - und sich selbst dabei die Position des privilegierten Beobachters zugeschanzt. Noch bis in die 1970er-Jahre haben Marxens und Freuds Erben an diesem 'besserwisserischen' Impetus festgehalten und sich selbst unbekümmert als das ausgeschlossene Dritte behandelt, als Inhaber 'wahren' Wissens und 'richtigen' Bewusstseins.

Spätestens das Erstarken des Konstruktivismus in den Kulturwissenschaften der letzten dreißig Jahre hat diesem ideologiekritischen Analyseprojekt jedoch einen herben Rückschlag versetzt. Nicht nur musste der Ideologiekritiker jetzt erfahren, dass auch er einen blinden Fleck hat und beim Beobachten auf die eigene Ideologie hin beobachtet werden kann, sondern auch, dass seine Beobachterposition nur eine von mehreren möglichen ist und somit auch nicht 'besser' sein kann als andere.

Wer freilich dachte, die Zeiten des besserwisserischen Ideologiekritikers gehörten nach diesen epistemologischen Verunsicherungen endgültig der Vergangenheit an, wird durch die Lektüre des vorliegenden Bandes nicht gerade selten eines 'Besseren' belehrt. Er präsentiert sieben Beiträge, die vielleicht etwas zu gewollt unter dem Etikett "Die Erotik des Blicks" unterschiedliche Aspekte des Erotischen in der Medien- und Unterhaltungskultur analysieren. So steht im Mittelpunkt des Beitrages von Malte Hagener das in den US-amerikanischen "sex comedies" der 1950er- und 1960er-Jahre häufig eingesetzte Stilmittel des sogenannten "Splitscreens". Der Autor sieht in diesem Gestaltungsprinzip nicht nur eine innovative Alternative zur klassischen 'Schuss-Gegenschuss'-Technik, sondern vor allem eine Ratifizierung der inhaltlichen Motivkomplexe dieser Filme auf formalästhetischer Ebene. Der Splitscreen entfalte seine eigentliche Bedeutung nämlich durch die Einbettung in einen dreifachen Funktionskontext: zum einen als "Spiegel der Handlung" (als Illustration "der geschlechterbasierten Auseinandersetzung"), zum zweiten als "Agent des Wandels" (als affirmative Bestätigung der zunehmend technikbasierten "gesellschaftlichen Modernisierung") und schließlich als "Allegorie der Zuschauerposition im Kino". So anregend die Thesen des Autors auch sind, der Aufsatz ist letztlich viel zu knapp, als dass man diesen vorbehaltlos zustimmen könnte.

Dass Knappheit auch ein Kennzeichen des Beitrages von Kathrin Rothemund sei, kann man hingegen wahrlich nicht behaupten. In ihrer mit 114 (!) Seiten längsten und die Hälfte des gesamten Buches einnehmenden Studie möchte die Autorin die Dekonstruktion traditioneller Geschlechterrollen in den Filmen der Coen-Brüder herausarbeiten. Bis der Leser allerdings in den Genuss dieser Analysen kommen kann, muss er sich zunächst in Geduld üben. In der ersten Hälfe ihres Textes resümiert Rothemund nämlich erst einmal die wichtigsten Stationen der Feministischen Filmtheorie, die einen Grundpfeiler insbesondere der klassischen Genderforschung darstellte. Zwar gibt die Autorin in diesem Abschnitt einen sehr informativen und fundierten Überblick über den Genderdiskurs in den Film- und Sozialwissenschaften, im Kontext dieses Sammelbandes wirken ihre Ausführungen jedoch völlig deplatziert. Man wird wohl zu Recht vermuten dürfen, dass es sich bei diesem Text um die Qualifikationsarbeit der Autorin handelt, die womöglich sogar ohne nennenswerte Kürzungen in den vorliegenden Band aufgenommen wurde. Wie auch immer: zu einem besseren Verständnis des "Coen-Universum(s)" trägt dieser theoretische Rahmen jedenfalls wenig bis gar nichts bei. Diesen Verdacht scheint die Autorin letztlich auch selbst gehegt zu haben, denn im Analyseteil ihrer Arbeit zaubert sie mit Jean Baudrillard plötzlich einen gänzlich neuen Theorielieferanten aus dem Hut, an dessen Beobachtungsdirektiven sie sich fortan orientiert und der als Kronzeuge für ihre Hauptthese fungiert, das Kino der Coen-Brüder entlarve "sowohl ihre eigene Darstellung als auch die Darstellung des dominanten Erzählkinos als Simulakrum und somit schon von Anfang an als eine Utopie der Abbildung von Realität".

Vor dem Hintergrund der Kontrastfolie 'Klassicher Hollywoodfilm' argumentiert auch Nadine Dablé in ihrem Beitrag über das "populäre Bombaykino". Nicht nur habe die "indische Rezeptionstradition" dem weltweiten Siegeszug des Hollywoodkinos, das in Indien nach wie vor "als zu kalt und gefühllos" empfunden werde, Einhalt geboten. Auch "der Westen" habe komplementär dazu lange Zeit einen großen Bogen um den "hindisprachigen Mainstreamfilm" mit seinem oft "fehlenden Realismus" gemacht, ja letztlich gegenüber dieser Filmkultur eine "arrogante" Haltung eingenommen. Während die Autorin aber am Desinteresse des indischen Publikums am Hollywoodfilm offenbar nichts auszusetzen hat, ja sogar eine gewisse Sympathie dafür entgegenzubringen scheint, wird die spiegelbildliche Ignoranz des 'Westens' ideologiekritisch übercodiert: "Wenn [...] das populäre Bombaykino lediglich hinsichtlich seiner Bezüge zur Wirklichkeit beurteilt wird, dann wird nicht nur ein falscher westlicher Maßstab angelegt, sondern auch das zentrale ästhetische Moment der populären Hindifilme verkannt."

Wenn die Autorin aber schon von Maßstäben spricht, möchte man doch gerne nachfragen, warum hier mit zweierlei Maß gemessen und das möglicherweise ebenfalls ideologisch motivierte negative Image des Hollywoodfilms nicht auch hinterfragt wird. Dass der 'Hindifilm' als "synästhetisches Spektakel" unter anderem durch einen Primat des "artifiziellen Stil(s)" und der Evokation von Gefühlen vor der Narration gekennzeichnet ist, kann man schließlich auch plausibel nachweisen, ohne daraus gewaltsam einen cultural clash zwischen Ost und West zu konstruieren.

Dem Vorbild klassischer Ideologiekritik am nächsten kommen wohl jene vier Beiträge, die Werner Faulstich, der spiritus rector des vorliegenden Sammelbandes, beigesteuert hat. Bereits mit seiner ersten Studie, der Analyse des ,Skandalfilms' "Intimacy" von Patrice Chérau, beweist Faulstich seine Meisterschaft in der Kunst der Filminterpretation. Sofern man die konstruktivistischen Bedenken, dass Filme keine eindeutigen "Bedeutungsträger", sondern je unterschiedlichen und gleichberechtigten Lesarten zugänglich sind, über Bord wirft, kann man sich hier an einer brillanten Interpretation erfreuen. Überzeugend führt Faulstich vor, dass die message des Films darin besteht, gelungene, "(w)irkliche Intimität" als finale Transzendierung der ursprünglichen Ich-Zentriertheit des Menschen zu bestimmen, die auf dem Weg dorthin - parallel zu den Phasen der Filmhandlung - unterschiedliche Stufen durchlaufe: von der gegenseitigen Enthüllung der Körper über die der Seelen bis hin zur auf Dauer gestellten Intimbeziehung. Freilich kann es Faulstich nicht nur nicht lassen, alternative Analysen des Films für "verfehlt" zu halten, welche dessen Kernaussage "übersehen" hätten, sondern er muss auf Biegen und Brechen aus seiner Filminterpretation nichts weniger als "ein kulturtheoretisches Statement" ableiten und normativ die "intime Beziehung auf Dauer" gegen die "'rein' sexuelle Beziehung" ausspielen.

In seiner Fallstudie zum Buchroman "Wuthering Heights" von Emily Brontë und seinen Verarbeitungen in anderen Medien geht Faulstich neben einer "faktografischen" Erfassung der Mediengeschichte dieses Klassikers vor allem der Frage nach, welche inhaltlichen Modifizierungen das Sujet der Vorlage bei seinen zahlreichen medialen Adaptionen erfahren hat. Trotz der unüberschaubaren Zahl vorliegender Medienversionen lassen sich, so die Bilanz Faulstichs, quer durch alle Verarbeitungen vier dominante Kernmotive ausmachen, die sich letztlich als Variationen des Oberthemas der Romantischen Liebe offenbaren: "Liebe als Abhängigkeitsbeziehung" (zum Beispiel in der Filmversion von Jacques Rivette), "Liebe als Rachegeschichte" (zum Beispiel in der Filmfassung von Luis Buñuel), "Liebe als Werteaporie" (zum Beispiel in der Hollywoodverfilmung von William Wyler) und "Liebe als Tragödie" (zum Beispiel in der Oper von Bernard Hermann).

Eine kulturhistorisch informierte Relektüre der Romanvorlage fördert für den Autor jedoch einen überraschenden Befund zutage: "Der Roman stellt [...] strukturell genau die Überwindung des Konzepts der Romantischen Liebe heraus, dem die Adaptionen allesamt verhaftet geblieben sind, und zwar die Überwindung durch eine partnerschaftliche Liebe" (zwischen Cathy und Hareton). Aber auch in diesem Fall gibt sich Faulstich nicht mit einer luziden Interpretation zufrieden, sondern prolongiert diese nach induktiver Manier in eine zeitdiagnostische These über die "Befindlichkeit unserer Kultur". In dem lang anhaltenden Erfolg der Adaptionen sieht Faulstich denn auch ein Indiz dafür, dass diese in immer neuen Verkleidungen "ein ungelöstes Problem" des 20. Jahrhunderts bearbeiten, nämlich das "falsche Ideal von Liebe als Romantischer Liebe - unreif, suchtähnlich, egozentrisch, basierend auf Schwäche, Angst und fehlendem Selbstwertgefühl".

Ein zeitdiagnostisch akzentuiertes Erkenntnisinteresse dirigiert auch Faulstichs Analyse des Beatles-Zeichentrickfilms "Yellow Submarine". Gleich zu Beginn formuliert er gänzlich unbescheiden als Stoßrichtung seiner Interpretation des Films: "Wer ihn nicht versteht, hat die Kultur der Epoche nicht verstanden." Entsprechend wird das Werk auch nicht auf seine vielfältigen Bedeutungspotentiale hin abgeklopft, sondern als in Stein gemeißelter "Bedeutungsträger" gefasst, dessen 'verborgene' Bedeutung es zu "entziffern" gilt. Diesmal enttäuscht Faulstich allerdings mit seinem etwas beliebig anmutenden Befund, die message des Films bestehe in der Darstellung einer "spirituelle(n) Reise an den Ursprung, ins innere Ich, in die Identität mit sich selbst". Und dass genau in dieser "Botschaft" das "Herzstück der Populärkultur der späten 1960er Jahre" zu finden sei, mag man auch nicht so recht unterschreiben.

Ausnahmsweise mal die nichtmedial vermittelte Unterhaltungskultur steht im Mittelpunkt des letzten Beitrages des vorliegenden Bandes, der erste Ergebnisse eines komparatistisch angelegten Forschungsprojektes vorstellt. Es geht dabei um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Unterhaltungsformen der beiden "Amüsiermeilen" Reeperbahn in Hamburg und Strip in Las Vegas. Wiewohl "Spielkultur und Sexkultur an beiden Orten das Rückgrad (sic!) des gesamten Unterhaltungsangebots" bildeten und "in der Tristesse einer vergeblichen Hoffnung auf ein besseres Leben" konvergierten, differieren Faulstich zufolge beide Subkulturen nicht nur in ihrer unterschiedlichen Akzentuierung der Komponenten Sex (Reeperbahn) und Glücksspiel (Strip), sondern auch durch ihre Nähe beziehungsweise Distanz zur Gesamtkultur: Wo die Reeperbahn mit ihrer "Verknüpfung von Unterhaltungskultur und Alltagskultur" und ihrer "starken Verankerung in Tradition" gegen "Fremdbestimmung, Normierung und Ausbeutung durch die etablierte Gesellschaft" opponiere, affirmiere der Strip mit seiner "Kniebeuge vor dem Mammon", der "Ausbeutung der vielen spielsüchtigen Menschen" und ihrer "Schicksalsgläubigkeit an die individuelle Erlösung" genau diese Gesellschaft - nun ja.

Die Suggestion des Durchblicks, die Offerte an den Leser, durch Mitvollzug entlarvender Lektürepraxen am 'wahren' Wissen zu partizipieren und sich auf der richtigen Seite zu wähnen - das ist das stets gleich bleibende Schema, nach dem ideologiekritische Analysen gebaut sind, das ist auch das Strickmuster, dem allen voran die Texte von Faulstich folgen und an denen man mustergültig Glanz und Elend der Ideologiekritik studieren kann. In ihnen kommt die in der Einleitung in Aussicht gestellte "Erotik des Verstehens" gewiss in ihrer reinsten Form zum Ausdruck, in ihnen wird aber auch die Einsicht in die Beobachterabhängigkeit jeglicher Erkenntnis am hartnäckigsten missachtet.


Titelbild

Werner Faulstich / Nadine Dablé / Malte Hagener / Kathrin Rothemund (Hg.): Die Erotik des Blicks. Studien zur Filmästhetik und Unterhaltungskultur.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2008.
235 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770546503

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