Erhellende Einsichten

Kurt Marti veröffentlicht mit "Ein Topf voll Zeit" seine Autobiografie der Jahre 1928 bis 1948

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von jedem ernsthaften Schriftsteller erhofft man sich irgendwann einmal auch eine Autobiografie. Dabei sind die Erwartungen meist umso höher gespannt, je näher der Autor am kulturellen oder politischen Zentrum lebt oder selbst ein solches bildet. Von Johann Wolfgang von Goethe bis Günter Grass reichen die großen Vorbilder, wobei indes oft die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit verschwimmen. In jüngerer Zeit erlauben uns auch immer häufiger Schriftsteller von der Peripherie des deutschen Sprachraums Einblicke in ihren Werdegang. Begonnen hat damit der Weltbürger Elias Canetti in seinen monumentalen Memoiren. Im letzten Jahr erschienen die Kindheitserinnerungen des Österreichers Gerhard Roth, und nun also gewährt uns Kurt Marti einen Blick in einen "Topf voll Zeit". Wie viele seiner Vorgänger schränkt der Schweizer Autor den Zeitraum ein, hier auf die Jahre von 1928 bis 1948, und wie so oft ist es der Blick von den Rändern, der auch hier die erhellendsten Einsichten ermöglicht.

In den zwei erinnerten Jahrzehnten durchläuft der 1921 in Bern geborene Marti einerseits die beiden Erziehungsinstanzen Schule und Universität, andererseits vollzieht sich um ihn herum der "Niedergang und dann der blutige Untergang Alt-Europas". Nur im Vorwort tritt Marti als Ich-Erzähler auf - dann greift er zu dem "uralten Trick", sein "Ich hinter einer dritten Person Einzahl" zu verstecken. Dadurch verschafft sich der Autor eine größere erzählerische Freiheit und einen erweiterten Blickwinkel auf eine Zeit, von der er sagt, "dass seither in der Schweiz keine Generation mehr die Verpflechtung individueller Lebensgeschichten mit dem Weltgeschehen so deutlich zu spüren bekommen habe, wie damals die sogenannte Aktivdienstgeneration".

Als "Aktivdienst" bezeichneten die Schweizer die Einberufung junger Männer zur militärischen Landesverteidigung in jener Ausnahmesituation, als sich "einer Seuche gleich der Faschismus in Europa ausgebreitet hatte". Marti beschreibt, wie seine dem Bürgertum entstammende Familie von der Weltwirtschaftskrise gebeutelt wird und wie sich allenthalben in der Schweiz Sympathien zeigen für das autoritäre deutsche NS-Regime, in dem viele Eidgenossen ein Bollwerk gegen den Kommunismus sehen wollen.

Die fein abgezirkelten Begebenheiten verraten den Meister der kleinen Form und geraten dem engagierten Prediger, als der Marti später reüssierte, nicht selten zum Exemplum. Wir erleben die Verführbarkeit des Jugendlichen für fundamentalistische Weltanschauungen, die auch und gerade in der Schweiz einen Zufluchtsort fanden. Marti zeigt allerdings auch die Mechanismen, welche ihn schützten. Die Lektüre von Hermann Hesses lebensbejahenden Romanen macht ihn immun gegen dogmatische Weltflucht, und als die Gymnasiasten im Frühjahr 1939 nach Weimar reisen, werden sie nur deshalb nicht verhaftet, weil die "berndeutschen Spott- und Schmähwörter" der Schweizer von den kriegsbereiten Deutschen nicht verstanden werden. Auf die Mobilmachung reagieren die zum "Aktivdienst" einberufenen Studenten mit jugendlichem Unernst. Den idyllischen Wachdienst auf der Alm nutzt der Rekrut zu etlichen amourösen Ausflügen. Obwohl der militärische Drill sich nirgendwo durchsetzen kann, scheint die Bereitschaft der Schweizer, ihre Freiheit in einer Art Guerillakrieg zu verteidigen, groß gewesen zu sein.

Wenngleich die Schweiz nicht am Krieg teilnahm, wurde sie doch in diesen verwickelt. Die Bevölkerung litt unter Verdunklungsmaßnahmen und Lebensmittelrationierung. Die Bedrohung führte zur Zensur, zur Aufhebung demokratischer Rechte und zur Etablierung eines autoritären Stils in Politik, Finanz und Wirtschaft. Als Adolf Hitler die Sowjetunion überfällt, reagieren viele mit Erleichterung, weil seine Soldaten jetzt "anderweitig gebraucht" werden. Gegenüber den Flüchtlingsströmen hat sich längst die "Das Boot ist voll"-Mentalität durchgesetzt. Angsichts der "heillosen Zeiten" heißt die Parole: zu- und wegschauen. Die Juristerei, die Marti ursprünglich, der Familientradition folgend, eingeschlagen hat, kann irgendwann nicht mehr befriedigen.

In der vom Existentialismus geprägten Nachkriegszeit weckt ausgerechnet die Theologie die Neugierde des Studenten auf das Leben. In Basel lehrt Karl Barth. "Zum Missfallen eidgenössischer Behörden und Politiker hatte er unermüdlich zum - auch bewaffneten - Widerstand gegen die Nazidiktatur aufgerufen." Nun redet er den Schweizern eindringlich ins Gewissen und macht sich zum "Anwalt der Besiegten".

Das imponiert Marti. Er sammelt erste Lebenserfahrungen als Aushilfsprediger in der Provinz und dann als Betreuer von Kriegsgefangenen in Frankreich. In Zürich erlebt er den Skandal um das erste Bühnenstück von "Fritz" Dürrenmatt, mit dem er einige Zeit die selbe Schulbank gedrückt hat. Die Aktionen gegen dessen Erstlingsstück "Es steht geschrieben" vermitteln ihm einen bleibenden Eindruck vom protestantischen Puritanismus. Die Schweiz, das hat Marti ebenso wie sein Altersgenosse Dürrenmatt oder auch Max Frisch erkannt, ist löchrig wie ihr Käse und stinkend vor Wohlanständigkeit. In Europa ist das Land überdies der größte Nutznießer des Krieges gewesen. Diese kritische Distanz zum eigenen Land, die etwa in Deutschland erst mit dem Wirken der Gruppe 47 in den 1950er-Jahren einsetzte, ist das Ferment für das literarische Engagement, mit dem die Schweizer Nachkriegsautoren und Querdenker internationales Aufsehen erregten. Als Marti 1948 zum Pfarrer ordiniert wird, verweigert er zum Entsetzen der Anwesenden bei der Eidesformel die Anrufung Gottes. So führt sein Lebensweg, das ist nicht die schlechteste Maxime eines inzwischen fast Neunzigjährigen, von Anfang an "ins Offene".


Titelbild

Kurt Marti: Ein Topf voll Zeit 1928-1948.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2008.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004201

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