Nicht immer konkret

Die Herausgeberinnen Inge Stephan und Alexandra Tacke veröffentlichen mit „NachBilder der Wende“ einen Sammelband über deren Auswirkung auf Literatur, Film und Kunst

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sicher haben noch viele von uns die Bilder vor Augen, die vor nunmehr bald zwanzig Jahren im Herbst 1989 über den Fall der Berliner Mauer über die Bildschirme flimmerten, und den lauten Jubel in den Ohren, der diese Bilder begleitet hat. Doch nach dem anfänglichen Jubel kamen schnell auch Ängste auf, die manchen neuen Bundesbürger noch heute plagen.

Wie aber haben sich die gravierenden politischen und kulturellen Veränderungen in Ost und West auf die Literatur, auf Filme und die Kunst ausgewirkt? Auf diese Fragen versuchen die Autoren des Sammelbandes „NachBilder der Wende“, von unterschiedlichen politischen Standpunkten aus einige, nicht immer befriedigende und auch nicht immer konkrete Antworten zu geben. Gleichwohl kann man dem Band, um das Leseergebnis vorwegzunehmen, einige Anregungen und Anstöße zum eigenen Nachdenken entnehmen ( Es ist übrigens der letzte Band einer NachBilder-Trilogie. Der erste „NachBilder des Holocaust“ erschien 2007, der zweite „NachBilder der RAF“ 2008.).

Gleich nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 ertönte in den Feuilletons der Ruf nach „dem Wenderoman“, „der Wunsch, sich im Spiegel der Literatur eines gemeinsamen, einheitlichen und einheitsstiftenden Moments“ versichern zu wollen, schreiben die beiden Herausgeberinnen in ihrer Einleitung zu dem Band und fügen hinzu, dass wir auf den Wenderoman heute noch warteten. Gleichwohl haben sich deutsche Literaten in Ost und West in den vergangenen zwanzig Jahren intensiv mit der jüngsten Zeitgeschichte auseinandergesetzt, wie viele der hier abgedruckten Texte deutlich zeigen. Markus Joch von der Humboldt-Universität äußert sich über die Logik des deutsch-deutschen Literaturstreits und legt ausführlich dar, dass und wie sehr Christa Wolf nach der Wende durch Marcel Reich-Ranicki und Frank Schirrmacher unter massiven Beschuss geraten war. Kein Wunder, dass diese, nach Ansicht von Joch, durch nichts gerechtfertigten Angriffe auf die beliebte Schriftstellerin den Zusammenhalt zwischen ihr und der ostdeutschen Leserschaft nur noch verstärkt haben.

Alexandra Pontzen von der belgischen Universität Liège, hat dagegen den Roman „Ein weites Feld“ (1995) von Günter Grass genau unter die Lupe genommen, in dem der Dichter die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, in der Form, in der sie sich vollzogen hat, mit starken Worten missbilligt. Während man in Westdeutschland durchweg mit hämischer Kritik darauf reagierte und Grass‘ Verharmlosung des SED-Regimes beklagte – viele warfen ihm Realitätsverlust vor –, fand der Roman in den neuen Bundesländern viel Zustimmung. Vor allem nahm man mit Befriedigung zur Kenntnis, dass Grass eine kompromisslose Abrechnung mit dem Osten vermieden hatte. Volker Braun apostrophierte Grass sogar als „Anwalt des Ostens“.

Kristin Schulz, ebenfalls von der HU, befasst sich mit „Heiner Müllers Dunkelzone der Erinnerung im Kontext seiner ,Vater‘-Texte“. Geraume Zeit sei die Utopie, nach Müllers eigenem Bekunden, der Motor seines Schreibens gewesen. Die DDR habe er lange als unmittelbare Folge der Erfahrung des Nationalsozialismus empfunden und mit ihr die „Hoffnung auf ein anderes Deutschland“ verknüpft. Sein Leben in der DDR war, wie Müller selbst einmal bekannte, ein Purgatorium und zugleich die Bedingung seines Schreibens gewesen. Nach 1989 gestand er dann ein, dass er sich nicht länger mehr „im Besitz der Wahrheit“ fühle, und gab damit die „Funktionärshaltung“ seiner früheren Texte auf.

Unter der etwas marktschreierischen Überschrift „Enteignete Indianer und ausgebeutete Neger“ wird der Kolonialisierungs-Diskurs in der Literatur nach 1990 thematisiert. Mit dem Aufruf „Die DDR soll keine Ko(h)lonie der BRD werden“, hatte Ende 1989 die Erklärung „Für unser Land“ geendet. Eindringlich warnte man vor einem „Ausverkauf der materiellen und moralischen Werte der DDR“, wie Andrea Geier in ihrem Beitrag darlegt.

An ausgewählten Texten von Franz Xaver Kroetz, Rolf Hochhuth, Thomas Rosenlöcher, Friedrich Christian Delius und Thomas Brussig aus den Jahren 1990 bis 2005 werden „inhaltliche Schwerpunktsetzungen, ästhetische Gestaltungen und differente konnotative Besetzungen des Blickfeldes Kolonialisierung vorgestellt“. Waren in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre Fragen nach der ,Vergangenheits-bewältigung‘ der DDR in den Vordergrund gerückt, so markierten ein Jahrzehnt später Romane von Thomas Brussig und Ingo Schulze eine Rückbesinnung auf die ,Wende‘-Zeit.

Nach dem Mauerfall stand fraglos die Literatur in einem Spannungsfeld divergierender Ansprüche. Unter den literarischen Texten, die sich seit 1990 mit der deutschen Einheit und ihren Folgen befassen, „kann man ästhetisch gelungene und weniger gelungene finden“, auch und „gerade im weit gestreuten Feld der Kolonialismus-Diagnosen, die ihre Teilhabe an gesellschaftspolitischen Konflikten explizit ausstellen“. Inzwischen, „zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer“, hat der Begriff „seine Schlagkraft verloren. Die gesamtdeutsche Arbeit von ost- und westdeutschen Autoren an dieser Symbolik ist jedoch Bestandteil eines innerdeutschen Verständigungsprozesses, der bis heute andauert.“

In anderen Texten geht es um fotografische Erinnerungsräume in Arbeiten von Sophie Calle und Monika Maron, um die Wende als Dekonstruktion von Heimat – und sogar um Spuren von antifaschistischer Tradition und DDR-Literatur in den Texten „Seltsame Sterne starren zur Erde“ von der deutschen Schriftstellerin türkischer Herkunft Emine Sevgi Özdamar. Sonja Klocke schreibt dazu: Beinahe zwei Dekaden nach dem Mauerfall manifestiert sich hier „im Rekurs auf in der DDR dominante ästhetische Traditionen und Diskurse das von Müller artikulierte Festhalten an der Utopie und damit die vitale Präsenz des sozialistischen Staates nicht nur in der deutschen, sondern auch in der türkisch-deutschen Vorstellungswelt“.

Wie wenig verheilt indes die Narben sind, die vierzig Jahre DDR bei vielen hinterlassen haben, zeigt das brisante Thema „Staatssicherheit“, wobei gegenwärtig allerdings auch das Bestreben festzustellen ist, aus Stasi-Leuten gute Menschen zu machen. Daneben sind ab etwa Mitte der 1990er-Jahre nostalgische, eher harmlose Tendenzen in sogenannten TV-Nostalgie-Shows zu beobachten, in denen ehemalige Ostbürger in Erinnerungen schwelgen, zum Beispiel an bestimmte Ost-Produkte, während Westbürger einen Crashkurs in der ehemaligen Alltagskultur ihrer ,neuen‘ Mitbürger erhalten.

Der Verlauf der Erinnerung an die DDR spiegelt sich gleichfalls in diversen Filmen wider, auch wenn zunächst die ostdeutschen Filmemacher auf die politische Wende mit ihren neuen künstlerischen Freiheiten und den Wegfall behüteter Produktionsbedingungen sehr unterschiedlich reagiert haben.

Während in der turbulenten Wendezeit viele Deutsche, die über Nacht zu Bundesbürgern geworden waren, ihre DDR-Vergangenheit buchstäblich über Bord warfen, rechneten nach 1990 zunächst etliche Autoren und Regisseure mit der Diktatur ab und schilderten die soziale Kälte, der ihre Protagonisten in der Nachwendezeit ausgesetzt waren. Manchmal ging es sogar heroisch zu, wie etwa in Frank Beyers Fernsehzweiteiler „Nikolaikirche“, der 1995 in der gesamtdeutsch gewordenen ARD ausgestrahlt wurde, eine offensichtlich beiderseits konsensfähige Geschichte des Mauerfalls. Besetzt war der Film weitgehend mit DDR-Schauspielern. Er stand unter der Regie eines der renommiertesten Regisseure der DDR, nach einer Buchvorlage eines ihrer kaum weniger bekannten Autoren, des 1981 ausgebürgerten Erich Loest. Die Rollen der Zentralfiguren jener Proteste um die Nikolaikirche waren indes paritätisch besetzt: Ulrich Mühe spielte den Pfarrer, Otto Sander den Superintendenten. So lud der Film zur Besichtigung eines geschichtlichen Ereignisses ein. Immerhin hatte eine Gesellschaft auf friedlichem Weg eine Diktatur samt ihrer Partei und der Stasi aus eigener Kraft zu Fall gebracht. Andere, vor allem jüngere Filmemacher, betrachteten die Zeichen der Zeit mit Staunen, Wehmut und Zweifel.

Die Verfilmung von Thomas Brussigs Erzählungen „Helden wie wir“ im Jahr 1999 durch Sebastian Peterson bahnte, wie das Buch einige Jahr zuvor, in der Literatur einer wesentlich unheroischen Sichtweise den Weg. Leander Haußmanns „Sonnenallee“ (1999) warf ebenfalls einen heiter-ironischen Blick auf den untergegangenen Staat. Auch in dem vier Jahre später von Wolfgang Becker gedrehten Film „Good Bye, Lenin“ scheinen die Konflikte merkwürdig dispensiert zu sein. Aber nicht alle Filme setzten auf Konsens, sondern spiegelten Irritationen wider, stellten Fragen und thematisierten einen radikalen Bruch wie Andreas Kleinerts „Verlorene Landschaft“ (1991) und Andreas Dresens „Stilles Land“ (1991). Auf westdeutscher Seite gibt es kaum Vergleichbares. Erzählt werden überwiegend Verlierergeschichten, in denen die ,Ostler‘ Außenseiter in der neuen Gesellschaft bleiben.

Es finden sich auch einige Gegenentwürfe zur Wiedervereinigungseuphorie. Nur ist deren Widerstandskraft begrenzt. In Florian Henckel von Donnermarcks „Das Leben der Anderen“, dem „vorläufig letzten Großeintrag in die Geschichte des Wendefilms“, werden sehr geschickt zwei Erzähltraditionen miteinander verbunden, die Verlierergeschichte und die Variante der Wende. Der Held menschlicher Bewährung unter den unmenschlichen Bedingungen des Stasi-Spitzelsystems wird nach der Wende zum Verlierer und erhält dennoch seine Rechtfertigung als Held einer literarischen Funktion.

Der frühe Wendefilm entstand in einer höchst produktiven Phase der Auseinandersetzung mit der Wiedervereinigung. Schon damals wurden die verschiedenen Erzählformate ausprobiert: das Melodrama, die Komödie, die Tragikomödie und die Groteske. Nicht wenige dieser Filme haben zeitnah auf die Zeitumbrüche reagiert.

Auffällig oft wird die Musiklandschaft in der DDR dargestellt, die, trotz aller Abwehrversuche durch die Partei- und Staatsführung der DDR, maßgeblich von westlicher Popkultur beeinflusst war und fast alle Stilrichtungen mit etwas zeitlicher Verzögerung nachvollzog. Der Westen hatte für die Menschen im real-existierenden Sozialismus eine ungeheure Attraktivität, ebenso die in der DDR lange verpönten Schönheitswettbewerbe, auf die Inge Stephan über „Miss-Töne im deutsch-deutschen Einigungsprozess“ zu sprechen kommt. Sie geht aus von Maxie Wanders Protokollen „Guten Morgen, du Schöne“ (1977), die sie als Aufbruchstext bewertet, als eine neue Ästhetik, die sich von traditionellen Schreibmustern des sozialen Realismus ebenso entschieden abgesetzt hat wie von der damals gängigen Protokoll-Literatur der westlichen Frauenliteratur. Erinnert sei nur an Erika Runges „Bottroper Protokolle“ aus dem Jahr 1968. Wanders Buch setzte Maßstäbe in einem Land, in dem die Frage der Frauenemanzipation als weitgehend gelöst galt. Die in ihm zum Ausdruck kommende Sehnsucht nach Schönheit und Poesie verweist, meint die Autorin, auf einen realen Mangel im Alltag der DDR und eröffnete offensichtlich einen Ausweg. Die Frauen konnten die Gesellschaft zwar nicht verändern, aber sich selbst und ihr privates Umfeld. Tatsächlich fanden 1986 selbst in der DDR die ersten Misswahlen statt, sozusagen in der Endphase dieses Staates. „Dass durch solche offene Präsentation des ,schönen Geschlechts‘ für herrschende nationale Interessen die realen Benachteiligungen für Frauen im Alltag in den Hintergrund gerückt werden“, gibt Inge Stephan zu bedenken, „ist eine historische Erfahrung, die Frauen in der DDR nach 1989 in neuer Weise gemacht haben“.

Lydia Strauss vergleicht zwei Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst aus Deutschland nach 1989 miteinander und meint, dass der Mauerfall nur eines von vielen historischen Ereignissen gewesen sei, mit denen sich junge Künstler beschäftigt haben. Doch könne die Zusammenführung von unterschiedlichen Anschauungs- und Wahrnehmungsformen durchaus als ästhetische Wiedervereinigung betrachtet werden.

Alexandra Tacke untersucht „Mauerbau und Mauerfall im kollektiven Gedächtnis“ und weist darauf hin, dass der Mauerfall schnell zu einem beliebten Sujet von Dokumentar- und Spielfilmen geworden sei. Florian Kappeler und Christoph Schaub erläutern in ihrem nach dem gleichnamigen Film von Sigrid Paul benannten Aufsatz „Mauer durchs Herz“, wie Führungen in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen ablaufen. Diese gingen, so die Autoren, tatsächlich „unter die Haut“. Allerdings müsse man wissen, dass es mit bloßer Authentizitätspoetik nicht getan sei. Diese könne sich sogar als Bumerang für die Stasi-Opfer herausstellen. Es bedürfe stets auch einer (selbst-)kritischen Reflexion und eines rational unterfütterten politischen Streites.

Kein Zweifel, etliche dunkle Kapitel wurden nach 1989/90 vorerst vorschnell zu den Akten gelegt, die jedoch eines Tages sicher wieder aufgeschlagen werden. So etwas braucht viel Zeit. Denn wie sagte Peter Schneider einmal? „Die Mauer im Kopf einzureißen wird länger dauern als irgendein Abrissunternehmen für die sichtbare Mauer braucht.“

Titelbild

Inge Stephan / Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der Wende.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
351 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783412200831

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