Last mit der Lust

Dagmar Herzog über Sex und Erinnerung in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sex gilt als die schönste Nebensache der Welt. Genau betrachtet ist Sex aber eine der Hauptsachen in unserem Leben. Ob man es sich nun eingesteht oder nicht. Der Geschlechtstrieb beeinflusst das Handeln und Denken der Menschen oft stärker, als sich das vermeintlich rationale Wesen eingestehen mag. Vor allem aber nimmt der Staat massiven Einfluss auf das Sexualleben seiner Bürger. Er verhängt Verbote oder erlässt Gebote, um ihn zu kontrollieren, einzuschüchtern oder ihm seine Lust zu lassen. Mal aus ideologischen, mal aus taktischen Motiven. Aber immer, um Herrschaft über die Menschen zu erlangen oder auszuüben. Sex war schon immer ein Politikum. Doch in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts nahm er einen ganz besonderen Stellenwert für Herrscher und Beherrschte ein, wie die amerikanische Geschichtsprofessorin Dagmar Herzog mit ihrer glänzend geschriebenen und provokant formulierten Sittengeschichte beweist.

Dreh- und Angelpunkt ihrer Überlegungen ist die durchaus zwiespältige Sexualpolitik im „Dritten Reich“, die entgegen landläufiger Annahmen durchaus lustbetont war und die Ehe nicht zwangsläufig für sakrosankt hielt. Das sexuelle Laisser-faire im Nationalsozialismus galt freilich nur für Deutsche mit einwandfreier Gesinnung und Abstammung. Sie sollten dem Führer letztlich für seine kriegerischen Expansionspläne den „erbgesunden“ Nachwuchs schenken. Juden und Homosexuelle hingegen bekamen die ganze Härte der Gesetze und die tödlichen Seiten der NS-Sexualpolitik zu spüren.

Herzog zeichnet hierbei überzeugend nach, wie die Nationalsozialisten ihre bisweilen erstaunlich libertäre Politik gegenüber der sittenstrengen Kirche verteidigten, dabei aber nie in den Verdacht geraten wollten, die „sexuelle Unmoral“ der Weimarer Republik unter anderen Vorzeichen fortzuschreiben. Obgleich ihnen das nie ohne Widersprüche gelang, setzte sich der „nationalsozialistische Wille zur Erotik“ bei vielen „Volksgenossen“ durch. Vor- und außereheliche heterosexuelle Kontakte waren keine Seltenheit, wurden nicht nur toleriert, sondern unter Umständen auch propagiert.

Die Promiskuität der Deutschen hielt auch nach 1945 an. Allerdings war dies auch ein Reflex auf die im Krieg brüchig gewordenen Geschlechterbeziehungen und das politische Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit. Allerdings war die Phase der erotischen Freizügigkeit nur von kurzer Dauer. Bald schon bemühten die konservativen Kräfte das Thema Sexualität, um „den Faschismus – und seine Niederlage – zu bewältigen“. Indem vor allem die Kirche „heterosexuelle Häuslichkeit“ und „romantische Liebe“ einforderte, distanzierte man sich zugleich von der NS-Zeit, in der „Sodom und Gomorrha“ geherrscht habe. Die politisch korrekte Vergangenheitsbewältigung beeinflusste bis Mitte der 1960er-Jahre eine restriktive Sexualpolitik, die Abtreibung und Homosexualität auch weiterhin kriminalisierte.

Erst in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre lockerten sich bekanntlich die Sitten. Nicht allein, aber doch vor allem durch die radikalen Impulse der 68er, wie Herzog differenziert hervorhebt. Die Studentenbewegung erhoffte sich von der sexuellen zugleich die politische Befreiung. Und dabei war auch ihr Bezugspunkt immer der Nationalsozialismus. Nur dass die rebellierende Jugend ihn für genauso sexualfeindlich und familienfreundlich hielt wie die konservative Haltung ihrer Eltern. Die differenzierte historische Wirklichkeit blendeten sie dabei zugunsten einer restriktiv-emanzipatorischen Botschaft freilich aus. So legitimierten sie mit ihrem Antifaschismus die freie Liebe und antiautoritäre Kinderläden und bemerkten nicht, wie sehr ihr eigenes Verhalten immer noch von traditionellen und autoritären Rollenmustern geprägt blieb.

Dagmar Herzog räumt aber nicht nur mit den „falsche Geschichtsversionen“ der Adenauer-Ära und der 68er auf. Sie zeigt auch die ambivalente Haltung der DDR-Regierung gegenüber ihrer vergleichsweise fortschrittlichen Sexualpolitik und beweist überzeugend, dass man hier in Sachen Gleichberechtigung und sexueller Selbstbestimmung ein ganzes Stück weiter war als die Bundesrepublik. Die Zeit nach der Wiedervereinigung betrachtet sie in Sachen sexueller Befreiung und sexualpolitischer Freiheiten dann eher ratlos. Die deutsche Gesellschaft bewegt sich in den letzten Jahren tatsächlich zwischen den extremen Polen „Hypersexualisierung“ und „Lustlosigkeit“. Die Verdammung des Nationalsozialismus vermag keine neue Identität oder neue Politik zu stiften. Was jedoch nicht bedeutet, dass die neue Orientierungslosigkeit die Sexualität entpolitisiert hätte. Vielmehr stellt sich nach der Lektüre der anregenden Studie von Dagmar Herzog immer noch die Frage, ob die Politisierung der Lust eher das Böse oder eher das Gute gebiert. Die Geschichte hat beides gezeigt und wird es wohl auch in Zukunft tun.

Titelbild

Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Siedler Verlag, Berlin 2005.
432 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3886808319

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