Schwarze Blitze im Hirn

In seinem Kurzkrimi „Die Rückseite des Mondes“ schildert Manfred Wieninger, wie ein österreichischer Polizist als wahnsinniger Serientäter verdächtigt wird

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Seine Eltern haben derart viel mitmachen müssen, dass die Geschichte von Romeo und Julia dagegen wie ‚eine Komödie‘ erscheint. Und auch selbst ist Franz Grassmann nicht gerade auf die Butterseite des Lebens gefallen: Seit eineinhalb Jahren versieht der Gruppeninspektor seinen Dienst im Stadtteil Laiden, „in dem sich nur Bundesheer-Vizeleutnants, Eisenbahner und Sozialfälle einigermaßen wohlfühlen“. Und weil das „in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen“ untergebrachte Wachzimmer genauso wenig einladend ist wie die örtliche Umgebung, lässt sich weder eine Funkstreifenbesetzung noch jemand aus dem Stadtpolizeikommando je bei ihm blicken.

Auch der überwiegend aus Juxanrufen von Jugendlichen, Beschwerden über Nachbarn und „rabiat ausgetragenen Ehezwistigkeiten“ bestehende Arbeitsalltag hält wenig Erfreuliches parat. Privat läuft es nicht besser: Wie den Garten vor dem Wachzimmer hat der rundliche Gruppeninspektor, der „wie ein jahrelang liegen gebliebener Faschingskrapfen mit blondgrauen Haaren“ aussieht, „sein ganzes Leben einfach verwildern lassen“. Nach 38 Dienstjahren hat er nichts anderes erreicht, als „der älteste Gruppeninspektor der Republik“ zu sein. Er verschließt sich dem „gesellschaftlichen Leben im Ort“, sitzt täglich „bis zur Sperrstunde“ im Tankstellen-Cafe, liest Zeitung, trinkt „unzählige rote Gespritzte“ und wird von Svetlana, der „Kellnerin, Köchin und quasi Geschäftsführerin“ des Lokals, danach manchmal „in sein Zimmer“ hinauf begleitet, wo sie ihn „auf ihre steinern traurige Art“ liebt.

Seine gesundheitlichen Probleme bessern sich dadurch nicht. Im Gegenteil. Seit er in Laiden ist, treten die sich als „schwarze Blitze im Hirn“ bemerkbar machenden Krampfanfälle noch häufiger auf. Und diese „seltsamen Attacken“ haben schon früher dazu geführt, dass er Dinge tut, „die niemand so recht (versteht), schon gar nicht seine Vorgesetzten“.

Grassmann leidet ebenfalls „unter einer Art Eichhörnchenblase“ und „seit seiner langwierigen und schmerzhaften Scheidung“ an Schlaflosigkeit. Sie ist der Grund seiner nächtlichen Patrouillengänge, die dem als „versoffenen Sonderling“ wahrgenommenen „alten Kieberer“ zu ein „bisschen Ansehen“ in der Bevölkerung verhelfen. Ein solches bleibt ihm bei der Polizei, wo „praktisch immer nur die Offiziere und die Polizeijuristen, auf jeden Fall die Ranghöheren“ Recht haben, ohnehin verwehrt, was am „umfangreichen Sündenregister in seiner Personalakte“ liegt.

Dafür verantwortlich sind die „Schmerzwellen in seinem Kopf“. Sie haben letztlich zur Strafversetzung nach Laiden geführt, was auf seine Sicht- und Denkweise abfärbt: Hat Grassmann früher an die Uniform „zutiefst geglaubt“, steht er nach fast vier Jahrzehnten Polizeidienst allem viel kritischer gegenüber. Aus der Gerechtigkeit ist für ihn „ein langes Wort aus einem Kreuzworträtsel“ geworden, und aus dem Staat etwas Verkommenes, „in dem [...] der Unterschleif und die Freunderlwirtschaft, der Proporz und die Unkorrektheit und ein versteckt perfider Hass aller gegen alle regiert“.

Dementsprechend sind ihm auch „die Menschen nur mehr zuwider“. Trotzdem aber wartet er „am letzten Tag vor seiner Pensionierung“ und der „endgültigen Schließung des Laidener Postens“ die ganze Zeit darauf, dass ihn jemand „mit billigem Sekt und billigen Sprüchen“ verabschiedet. Doch niemand kommt, „kein einziger Laidener, [...] kein Offizieller, kein Uniformträger“. Daher lässt er schließlich seinen Frustrationen freien Lauf, pinkelt dem Polizeipräsidenten an die Bürotür und fängt Streit mit einem „Amateur-Zuhälter“ an, der ihn mit Hilfe eines „ledernen Totschlägers“ kurzfristig in einen „am Boden liegenden Bewusstlosen“ verwandelt.

Überraschenderweise hat das auch sein Gutes. Denn „zum ersten Mal seit vielen Jahren“ wacht Grassmann in dieser Nacht kein einziges Mal auf. Er schläft „mehr als 25 Stunden“ durch – und das „erschreckend tief und traumlos“.

Weil in dieser Zeit aber „ganz schön was passiert“ und Grassmann nur angeben kann, geschlafen zu haben, sonst aber nichts weiß, wird er vom Chef der Harmer-Kripo verdächtigt, „als meschuggener Serientäter [...] drei Menschen überfallen und körperlich attackiert“ zu haben. Unter diesen befindet sich auch der alles andere als sympathisch wirkende Geschäftsführer eines Supermarkts, dem man „bei lebendigem Leib den Schniedelwutz [...] mit einer Heftmaschine an einen Werbeständer“ tackert.

Bei jemandem mit Hang zu „erpresserischen, sexuellen Nötigungen“ lässt sich eine solche Aktion schon vorstellen. Und daran ist dieses in der Kurzkrimi-Reihe „Kaliber 64“ der Edition Nautilus erschienene Bändchen beileibe nicht arm, auch wenn es sich dem Motto „64 Seiten und Schluss“ zu beugen hatte. Es passiert genug in dieser Geschichte: Überraschendes und Skurriles, Beklemmendes und Sympathisches. Etwa, dass der Held die bei ihm eintrudelnden „Verordnungen des Innenministeriums und diverse Rundschreiben des Stadtpolizeikommandos“ auch nach wiederholter Lektüre kaum versteht. Dass er, „um seinen Vitaminbedarf zu decken, [...] Essiggurkerl und Pfefferoni“ zu sich nimmt. Dass man, um den „unbarmherzigen Mühlen [...] der österreichischen Fremdenverwaltungs- und Fremdenvernichtungsmaschinerie“ zu entkommen, „rund 2000 Euro an Gebühren“ benötigt. Dass es sonst wohl nur noch „in Nigeria zulässig“ ist, wie man hier „inmitten des zweitgrößten Grundwasserreservoirs des Bundeslandes“ das Müllproblem beseitigt. Und schließlich, dass „zwanzigtausend Tage lang Eierspeis’ gefressen“ zu haben, genug ist.

Letzteres lässt sich gut nachvollziehen, genauso wie die Kritik an Zuständen, Örtlichkeiten, Institutionen und der „lokalen Folklore“, womit unter anderem nächtliche Geisterfahrten junger Burschen „in PS-starken, japanischen Coupés“ gemeint sind. Manfred Wieninger erzählt mit einer großen sachlichen Kompetenz. Und er bedient sich, ob er nun lokalgeschichtlichen Spuren folgt oder die örtliche Gesellschaftsstruktur beleuchtet, einer Sprache, die über ihren Wortwitz, ihre kreativen Vergleiche und ihren munteren Plauderton zu beeindrucken versteht.

Auch sonst hinkt die um den in Pension geschickten Polizisten Franz Grassmann arrangierte Erzählung den fünf Marek-Miert-Krimis Manfred Wieningers in nichts nach. Bloß auf so viel Intellekt wie dieser Privatdetektiv, der „problemlos einen Integral zu berechnen und den Dreischritt der Dialektik des Denkens zu begreifen“ imstande ist und auch noch „über so einen gebildeten Blick verfügt“ wie vor ihm nur Thomas Mann, scheint Inspektor Grassmann nicht zurückgreifen zu können. Zumindest geht er damit nicht hausieren. Und das aus gutem Grund. Denn „als intellektuell“ zu erscheinen, ist nämlich „in Laiden ein furchtbarer Fauxpas“.

Titelbild

Manfred Wieninger: Die Rückseite des Mondes. Krimi.
Edition Nautilus, Hamburg 2008.
63 Seiten, 4,90 EUR.
ISBN-13: 9783894015800

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