„Auf der anderen Seite der Welt“

Julia Franck lädt in ihrer Anthologie „Grenzübergänge“ dazu ein, sich an die innerdeutsche Grenze zu erinnern

Von Marie Isabel SchlinzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie Isabel Schlinzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Nachhinein hätte sich wohl mancher im Herbst 1989 jenen janusköpfig klaren Blick gewünscht, den Roger Willemsen damals anscheinend besaß: „Es mag defätistisch klingen“, schreibt der Autor über den Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung, „aber man konnte die ‚friedlichen Revolutionäre‘ auch in die Arme westlicher Politiker, Publizisten und Wirtschaftsvertreter laufen sehen und denken: Wehe Volk, jetzt kommt was auf euch zu!“

Allerdings waren derartige Ansichten damals wenig populär. Im Gegenteil bestand in der lang andauernden Unfähigkeit vieler Ost- wie Westdeutscher, den jeweils anderen Teil des Landes realistisch wahrzunehmen, die Grenze fort. Vereinigt wurden, wie Willemsen treffend bemerkt, zunächst „Träume“ und „Desillusionen“. Die Mauer, welche einem mancherorts wortwörtlich die Sicht verstellt hatte, war auf beiden Seiten hervorragend dazu geeignet gewesen, Wünsche und Vorurteile darauf zu projizieren. Wer dagegen die Grenze überschreiten wollte, beziehungsweise es durfte, manchmal sogar musste, wer also beide Seiten kannte, beobachtete deren Öffnung oftmals mit eher gemischten Gefühlen.

Anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls ist eine Anthologie erschienen, welche den unterschiedlichen Formen von Beziehungen zur innerdeutschen Grenze nachspürt. Unter dem Titel „Grenzübergänge. Autoren aus Ost und West erinnern sich“ hat Initiatorin Julia Franck autobiografische sowie fiktionale Beiträge von Vertretern unterschiedlicher Generationen herausgegeben. Entstanden ist so eine Sammlung, deren ungewöhnliche inhaltliche Vielfalt sie von ähnlichen Veröffentlichungen zu diesem Thema abhebt.

Der wohl wesentlichste Einwand, der gegen den Band vorzubringen ist, begründet sich in dessen Zusammensetzung und sei daher gleich zu Beginn angesprochen: Neben fünfzehn Originalbeiträgen hat Franck zehn bereits an anderer Stelle veröffentlichte ausgewählt. Allerdings kann weder die Bekanntheit der Autoren letzterer Beiträge – unter ihnen Ingo Schulze, Günter Grass und Thomas Brussig – noch deren jeweilige Qualität darüber hinwegtäuschen, dass hier im Grunde Leerstellen übertüncht werden sollen. Mancher wäre wohl eher geneigt, diese Variante zu akzeptieren, wenn es sich bei den wiederabgedruckten Texten um relativ alte, wenig bekannte oder schwer zugängliche handelte. Dies ist jedoch überwiegend nicht der Fall, und man fragt sich ernsthaft, warum hier ein Beitrag von Claudia Rusch steht, der gerade erst in ihrem Band „Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau“ erschienen ist.

Der negative Nebeneffekt, den diese Vorgehensweise auf manchen Leser haben mag, ist hinsichtlich jener Autoren, die Francks Einladung mit eigens für die Anthologie verfassten Texten gefolgt sind, besonders unverdient. Fast wünschte man sich, auch mit Blick auf das Konzept des Bandes, dass jemand die Herausgeberin dazu ermutigt hätte, ihrer ursprünglichen Eingebung zu folgen und jene „häufig gehörte und gelesene Antwort aus dem Westen“, man „könne keinen Text“ zur deutsch-deutschen Grenze „schreiben, weil […] die Erfahrung fehle“, tatsächlich abzudrucken. Leider ist es bei der Idee sowie einer Kritik Francks an all jenen, die derart nicht nur das Schreiben, sondern scheinbar auch das Nachdenken verweigern, geblieben.

Demgegenüber führen einige der Originalbeiträge vor, dass sich etwaigen Erfahrungs- bzw. Sprachlosigkeiten auch kreativ begegnen lässt. Ein schönes Beispiel hierfür ist Marcel Beyers Text „Die rettende Zeile“, das einzige Gedicht der Sammlung. Der Dichter lässt sein lyrisches Ich mit anderen in selbstironischen Versen von Land zu Land reisen, immer auf der Suche nach einer adäquaten Sprache für den Wechsel vom Dies- ins Jenseits der Grenze, der sich Worten seltsam zu entziehen scheint.

Die Mehrzahl der Texte, die eigens für die Anthologie verfasst wurden, schildern jedoch konkret Erfahrungen mit dem Überschreiten der innerdeutschen ‚Mauer‘ und vor allem die Absurdität des kleinen Grenzverkehrs in Berlin. Diesem widmet sich beispielsweise Uwe Kolbes Text „Tabu“, in dem ein junger Mann zum ersten Mal vom Ost- in den Westteil der Stadt reist und sich plötzlich „auf der anderen Seite der Welt“ wiederfindet, jenseits des Schweigens, das mit der Grenze manifest geworden ist. Die Strapazen, welche tagtägliche Grenzüberquerungen aus Sicht eines Kindes bedeuten, schildert dagegen Franck. Ihre Erfahrungen als Tochter einer aus der DDR ausgewanderten Familie in der BRD und das Aufwachsen im doppelten Bewusstsein für hüben wie drüben lassen sie angesichts des gesamtdeutschen Jubels beim Fall der Mauer starke Vorbehalte äußern.

Die teilweise krasse Verzerrung der Realität, welche die Vorstellungen Ost- wie Westdeutscher vom jeweils anderen Teil Deutschlands prägten und die Franck thematisiert, sind in anderen Beiträgen ebenfalls präsent. Man ist indes erstaunt angesichts der Unaufgeregtheit, mit der viele Autoren retrospektiv ihr Verhältnis zur deutsch-deutschen Grenze beschreiben. Überforderung, Angst, Demütigung, Unwissenheit, Egoismus und Exotik gehören vordergründig zum Gefühls- und Themenrepertoire dieser Erinnerungstexte. Wut dagegen, Enttäuschung, fröhliche Streitbarkeit oder die naheliegende, beunruhigende Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie das einstmals Getrennte wieder zusammenwachsen soll, finden sich kaum. Willemsens zu Anfang zitierter Text, „Ein kleines Winken“, ist tatsächlich der bei weitem politisch engagierteste und kritischste des Bandes.

In anderen Texten manifestiert sich die deutsch-deutsche Grenze zumindest als politisches Gebilde, als Institution des Schreckens, die nicht nur zu Entfremdungserscheinungen sondern auch zu überaus tiefen Freundschaften führte. Erkennbar werden Grenzübergänge zudem als Topografien: Deren Begrifflichkeiten und fast mythisch anmutende Semantik sind zwar mit dem selbst mehrdeutigen „Fall der Mauer“ aus dem Alltagsvokabular verschwunden, dennoch bewahren sie die Grenze und ihre Überquerungen wie in einer Zeit- und Sprachkapsel suggestiv auf. Man denke nur an den „Tränenpalast“, die „Böse Brücke“ oder „Checkpoint Charlie“, an die Verwandlung der Reisenden aus der BRD in die DDR in „Westkontakte“ und an die „Ostler“, denen sie begegneten.

Von dem nur scheinbaren Verschwinden der Grenze als äußerer Topografie sowie der Fortdauer ihrer Wirkung im Inneren erzählen zwei der literarisch herausragenden Beiträge der Anthologie. Sie stammen von Autorinnen, deren Biografien vom Leben jenseits überschrittener Grenzen nachhaltig geprägt worden sind: Marica Bodrozic blendet in „Weder am Morgen noch in der Nacht“ das Damals und Jetzt ineinander in dem Versuch, die Natur von Erinnerung zu beschreiben: Das Grauen der historischen Mauer wird in der für Touristen aufgestellten Grenzattrappe sichtbar und die Vermarktung des Schreckens als Oberfläche des Vergessens erkennbar gemacht, unter der das Vergangene unbefriedet lauert. Franziska Groszer dagegen denkt in ihrem Text „Wenn meine Schuhe vor Müdigkeit weinen“ „über das Verlorene im Gewonnenen“ nach. Sie schildert in ruhigen, tiefreichenden Bildern das durch nichts zu überbrückende Gefühl der Ferne, das jene empfinden, welche vom Jenseits der Grenze (der BRD) ins Diesseits zurückkehren (die ehemalige DDR beziehungsweise Ostdeutschland), aus dem sie einst gekommen waren.

Nicht zuletzt mit Blick auf die hier umrissenen Beiträge – und unabhängig von der zu Anfang geäußerten Kritik an der inhaltlichen Zusammenstellung des Bandes – sei die Anthologie zur Lektüre wärmstens empfohlen. Sie wird all jene erfreuen, die im Jubiläumsjahr des Mauerfalls nach Stimmenvielfalt suchen, reflektierte Texte schätzen, sich erinnern oder zum Nachdenken anregen lassen wollen. Der Band sei insbesondere jenen Lesern ans Herz gelegt, die selbst keine Erinnerungen an die Mauer haben und dies als Mangel empfinden. Dies dürfte insbesondere die Jüngeren, speziell die seit Mitte der 1980er-Jahre-Geborenen betreffen. Um ihre Eltern, Großeltern, ja die heutige Bundesrepublik insgesamt verstehen zu können, sind sie in besonderer Weise auf die Bereitschaft Älterer angewiesen, von ihren Erfahrungen mit der innerdeutschen Grenze zu berichten. Denn letztlich gilt für alle Generationen, was Franck im Titel ihres Beitrags festgehalten hat: „Die Überwindung der Grenze liegt im Erzählen“.

Titelbild

Julia Franck (Hg.): Grenzübergänge. Autoren aus Ost und West erinnern sich.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
281 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783100226044

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