Jenseits der blühenden Landschaften

Über Andreas Rödders kenntnisreiche „Geschichte der Wiedervereinigung“

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts von globaler Wirtschaftskrise, aktueller Europamüdigkeit sowie populistisch-extremistischer Tendenzen ist es dringend notwendig, sich an Ereignisse und Leistungen zu erinnern, aus denen Stärke erwachsen könnte. Dazu zählen sicher der sechzigjährige Geburtstag des Grundgesetzes und – passend zum 20jährigen Jubiläum – die sogenannte Wendezeit 1989/90, in deren Euphorie gar das Ende der Geschichte postuliert wurde.

Obwohl sich dieses Ereignis keineswegs eingestellt hat, können wir umso mehr von den Historikern lernen. Nachdem die auch damals bereits etablierten Vertreter der Zunft, wie etwa Heinrich August Winkler, Manfred Görtemaker und Hans-Ulrich Wehler vor einer Dekade ihre deutsche Geschichte vorgelegt haben, tritt nun eine junge Generation von Gelehrten an, welche die Ereignisse lediglich als Heranwachsende erlebt haben. Dazu zählt Eckart Conze, Jahrgang 1963, der die „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart“ unter dem Vorzeichen von äußerer Sicherheit und innerer Stabilität beschrieben hat, aber auch der 1967 geborene Andreas Rödder, dessen „Geschichte der Wiedervereinigung“ hier näher vorgestellt werden soll.

Beide Forscher sind, als später Geborene, auf ein intensives Studium der Quellen angewiesen. Diese sind allerdings nicht gerade exzellent zu nennen, weil viele Akten noch nicht zugänglich oder als geheim gekennzeichnet sind. Überwuchert wird die Erinnerung überdies von einer sehr subjektiven Memoiren-Literatur, die der Mythenbildung Tür und Tor öffnet. Trotzdem oder gerade deshalb erhebt Andreas Rödder den Anspruch, die „erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung der Wiedervereinigung von 1989/90“ vorzulegen – und erfüllt diesen auch glänzend. Denn sein Werk beruht nicht nur auf dem Studium der zugänglichen Akten und der Kenntnis der inzwischen recht umfangreichen Forschungsliteratur, er hat auch die zeitgenössischen Printmedien ausgewertet und nutzt die Berichte der Beteiligten. Was er vorgefunden hat, sichtet er kritisch und spart dabei nicht mit einer pointierten, oft nahezu feuilletonistisch formulierten Meinung, die auch denjenigen noch vergnügt, der die Ereignisse selbst hautnah miterlebt hat.

Rödder hat die komplexen Ereignisse sinnvoll strukturiert. Zunächst untersucht er die Gründe für den „Zusammenbruch des Ostblocks und den Untergang der DDR“. Sodann schildert er die Ereignisse von der Maueröffnung bis zum Tag des Beitritts. Zuletzt werden die Probleme des vereinten Deutschlands bis nahe in die Gegenwart dargestellt. Dieser weit gespannte Blickwinkel wiederum integriert die außenpolitischen Gesichtspunkte ebenso wie die innen-, wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme der beiden und schließlich vereinten deutschen Staaten.

Die entscheidende Figur des gesamten Umwandlungsprozesses der hier behandelten „Scharnierzeit“ (Reinhart Koselleck) ist für Rödder, nicht ganz überraschend, Michail Gorbatschow. Allerdings sieht er in dem sowjetischen Staats- und Parteichef einen „Zerstörer wider Willen“, der zunächst noch daran glaubte, den Kommunismus reformieren zu können, und der erst durch den Lauf der Ereignisse, den er nicht mehr stoppen konnte, zum „Liquidator eines ohnehin maroden Systems“ wurde. Gorbatschow personifiziert für Rödder die bereits weit fortgeschrittene und schon in der späten Breschnew-Ära angelegten „Erosion des sowjetischen Herrschaftswillens“ angesichts der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Katastrophe des gesamten Sowjetimperiums.

Erinnert sei daran, dass Helmut Kohl die Zustimmung Gorbatschows zur Vereinigung nicht nur mit Kreditangeboten und Geldzahlungen, die hier übersichtlich aufgelistet werden, erkaufte, sondern auch mit Lebensmittellieferungen. Ebenso war die teilweise heute noch gefeierte Sozialpolitik der DDR niemals durch eigene Leistung finanziert, sonder nur durch Verschuldung im Westen. Das wiederum machte die DDR-Führung erpressbar und erklärt auch ihr Versagen. Während sich die Bundesrepublik erfolgreich den Herausforderungen von Digitalisierung, Internationalisierung und europäischer Einigung stellte, isolierte sich der bürokratische Sozialismus der DDR, gefangen in Planillusionen und Klassenkampf-Paranoia, gegenüber der Schutzmacht Sowjetunion. Diese war indes immer weniger bereit und in der Lage, die DDR wirtschaftlich und militärisch zu unterstützen. Eine Senkung des Lebensstandards zerstörte jedoch die realsozialistische Weltdeutung und machte die DDR nahezu unregierbar. Für das Chaos in Ost-Berliner Regierungskreisen, aber auch im Kreml findet Rödder überzeugende Belege. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie der Autor die nach wie vor zahlreichen Fragen von Forschern und Interessierten aufgreift und Stellung bezieht, ohne dabei besserwisserisch zu wirken. Kritisch sieht er auch die Rolle Kohls, der zunächst, wie es seiner Mentalität entsprach, abwarten wollte und dann lange Zeit die Illusion einer sich entwickelnden Konföderation hegte. Mit seiner „nationalen Wende“, die er gegen seinen Außenminister Dietrich Genscher durchsetzte, brachte er die europäischen Nachbarn gegen sich auf. Die Einheit selbst wurde dann von der Mehrheit der DDR-Bevölkerung erzwungen, die jede Hoffnung auf einen dritten Weg, wie ihn etwa der Runde Tisch oder die Oppositionsbewegung vorhatten, aufgegeben hatte, ihm gar eine massenhaften Absage erteilte.

Die Zeit nach der Vereinigung mit ihren sozialen und wirtschaftlichen Problemen wird dann etwas weniger dramatisch und eher schulbuchmäßig, aber immer sehr sorgfältig abgehandelt. Am Ende stehen, ungewöhnlich für ein historiografisches Werk, zehn Thesen zur deutschen Einheit, die noch einmal in Kurzform die wesentlichen Facetten des Werkes aufgreifen und zuspitzen, etwa den problematischen Begriff „Wiedervereinigung“, die Frage nach den Wirkungskräften im historischen Prozess („Menschen und Mächte“) oder auch Kohls vielzitiertes Diktum von den „Blühenden Landschaften“.

Rödders ist ein Werk gelungen, das Erinnerung zum Vergnügen werden lässt und auch so manchen lehrreichen Ansatz in den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart bietet.

Titelbild

Andreas Rödder: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
490 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406562815

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