Muscheltauchen in der Tiefsee

In seinem ersten Roman „Schiefer eröffnet spanisch“ übt der Freiburger Autor Kai Weyand Kritik am Schulwesen

Von Christian PalmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Palm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der spanischen Eröffnung ist im Schach „ein indirekter Angriff auf den König“ gemeint: „erst mal so tun, als habe man noch nichts Besonderes im Sinn, dabei schielt man schon auf den König“. Das Thema von Kai Weyands erstem Roman wird auch indirekt eingeführt. Wer den Klappentext nicht gelesen hat, ahnt auf den ersten Seiten nicht, dass der Autor es auf das Schulsystem abgesehen hat. Nur dass das Schachspiel eine gewisse Rolle in diesem Roman spielt, wird sofort deutlich.

Literarische Werke, in denen Schach gespielt wird, sind nichts Außergewöhnliches – im Gegenteil: Sie haben Tradition. So ist beispielsweise der Titelheld in Vladimir Nabokovs Roman „Lushins Verteidigung“ ein leidenschaftlicher Schachspieler. Jean Pauls Figur Obristforstmeister von Knör lässt in „Die unsichtbare Loge“ eine Partie Schach darüber entscheiden, wer seine attraktive Tochter heiraten darf. Der Österreicher Stefan Zweig hat dem Schachspiel sogar ein ganzes Werk, die „Schachnovelle“, gewidmet. Diese Aufzählung ließe sich problemlos fortsetzen. Mit „Schiefer eröffnet spanisch“ reiht sich auch Kai Weyand in diese Liste ein.

In seinem Erstlingsroman schildert der Freiburger Autor, geboren im Revoltejahr 1968, eine seltsame Freundschaft von zwei skurrilen Außenseitern, denen es im Leben erheblich an sozialen Kontakten mangelt. Die beiden Männer lernen sich im „Schmalen Wurf“, der Stammkneipe des namenlosen Ich-Erzählers, kennen. Es stellt sich heraus, dass sie Nachbarn sind. Bald schon spielen sie täglich gegeneinander Schach und trinken dabei zusammen Wein. Schiefer, so der Name des einen, ist dem Erzähler am Schachbrett zwar haushoch überlegen, doch hier hören seine Erfolge auch schon wieder auf. Die Titelfigur ist ein typischer Antiheld, dessen Körperhaltung „schief und gebeugt“ ist, „als wäre der Name Programm“. Schiefer ist ein „seltsamer Kauz“, dem das Leben „ein Stück weit abhanden gekommen zu sein“ scheint. Sein Leben darf als total gescheitert beschrieben werden. Er ist ein frühpensionierter Lehrer, der über den „Alptraum“ Schule nichts Positives zu berichten vermag.

„In der Schule ist der Durchschnitt Mitte fünfzig, alkoholkrank, zynisch, suizidal“, lautet Schiefers Einschätzung. Auch in der Musik, seinem Hobby, erleidet er Schiffbruch. Einst als „weißer Jimi Hendrix“ gefeiert, ist der Gitarrist inzwischen zu einem langweiligen Hochzeitsmusiker verkommen. Zu allem Überfluss geht auch noch seine Ehe in die Brüche. Den Kontakt zu seinem Sohn Florian bricht er ab, denn – so Schiefer – „lieber gar keinen Vater als einen Versager“. Seinen Frust ertränkt er in Alkohol.

Auch der Erzähler erkennt die „Trostlosigkeit“ seines eigenen Lebens. Als mittelmäßiger Detektiv schnüffelt er im Privatleben anderer Leute herum, deckt beispielsweise Ehebrüche oder Fälle von Datendiebstahl auf und beschattet Jugendliche im Auftrag ihrer besorgten Eltern. Er hat das Schachspielen angefangen, „weil es das strategische Denken fördert“ – eine berufliche Anforderung an einen Detektiv. Im Gegensatz zu seinem Schachpartner, in dessen Ex-Frau er sich unglücklich verliebt, ist er über die Schule sehr schlecht informiert, hat ihn doch stets seine Mutter unterrichten müssen, weil die Familie berufsbedingt ständig umgezogen ist.

Da Schiefers Finanzen nicht gesichert sind, muss er sich einen Untermieter suchen. Der einzige Bewerber, der sich auf die Anzeige hin meldet, ist Theo Mal, ein motivierter Junglehrer voller Tatendrang, der in den öffentlichen Schuldienst wechseln will, weil er nach einer zweijährigen Lehrtätigkeit an einer Privatschule nun die Chance auf eine Beamtenstelle sieht. Gemeinsam mit dem Erzähler fasst Schiefer den ungeheuerlichen Entschluss, seinen neuen Untermieter als Versuchskaninchen für ein soziales Experiment zu benutzen, das Schiefers eigenes Scheitern als Lehrer wissenschaftlich beleuchten soll. Um herauszufinden, ob das Schulsystem oder er selbst dafür verantwortlich ist, wird Theo Mal wie ein „Hamster in einem Laufrad“ – diese Metapher wird immer wieder herangezogen – beobachtet. Von einer „teilnehmenden Beobachtung“ ist die Rede. Somit eröffnet also auch Schiefer spanisch, nähert er sich der Schule – und somit seiner Vergangenheit – doch zunächst auf indirektem Weg.

So spioniert er seinen Untermieter regelrecht aus und führt Buch über dessen Gemütszustand, Nahrung, ja sogar den Stuhlgang. Nachdem Theo in das Projekt eingeweiht wird, arbeiten die drei Männer schließlich zusammen, bringen versteckte Kameras in der Schule an und gehen daher „von der teilnehmenden zur direkten Beobachtung“ über. Schnell wird deutlich, dass Theo als Lehrer hoffnungslos überfordert ist. Seinen Schülern, die ihn verspotten, ist er wehrlos ausgeliefert.

Schiefer zieht ein verheerendes Fazit über das Schulsystem. Den Lehrerberuf vergleicht er mit „Muscheltauchen in der Tiefsee ohne Atemgerät. Du holst tief Luft und nach einer dreiviertel Stunde darfst du kurz auftauchen und neue Luft holen, bevor sie dich wieder runterschicken. Dahin, wo es dunkel ist und kalt, wo dich niemand sieht, wo du allein bist, wo dir niemand hilft, wo das Wasser trüb ist und voller Abfälle. […] Du sagst, dass du frierst und kaum noch etwas siehst. Aber im Boot zucken sie bloß mit den Schultern, das wird schon, sagen sie.“

Die Zustände an Schulen erscheinen katastrophal. Dem Leser wird vor Augen geführt, dass viele Faktoren zum schlechten deutschen Bildungssystem beitragen. Von Solidarität zwischen den Lehrern gibt es keine Spur. Auch die Schulbauten sind heruntergekommen. Vor allem kommen aber die undisziplinierten Schüler sehr schlecht weg. Bedauernswert ist jedoch, dass der Autor kaum über das eigentliche Geschehen in der Klasse berichtet, wie dies beispielsweise fast zeitgleich der französische Regisseur Laurent Cantet in seinem preisgekrönten Film „Die Klasse“ (Originaltitel: „Entre les murs“) getan hat. Der Übergang von der teilnehmenden zur direkten Beobachtung gelingt dem Autor Weyand nur bedingt. Letztere bleibt unscharf, die Schulanalyse daher unvollständig, was sie leider als nicht tiefgründig genug erscheinen lässt. Eigene Erfahrungen des Autors könnten der Schreibanlass gewesen sein. So hat Weyand in einem Interview bekannt, er sei während seiner kurzzeitigen Lehrtätigkeit an einer Realschule sehr unglücklich gewesen und habe daraufhin dem Lehrerberuf den Rücken gekehrt.

Lösungsansätze für die Schulmisere bietet das Buch zwar nicht, doch das war wohl auch nicht die Absicht des Autors. Vielmehr hält er der heutigen Schule einen Spiegel vor und wirft mit seinem Romandebüt reichlich kritische Fragen auf. Die scharfe Kritik kann keinesfalls überhört werden. Im Gegenteil, sie sollte von allen Beteiligten sehr ernst genommen werden.

Zu den Stärken des Romans zählt zweifelsohne Weyands Erzählkunst. Mit viel Witz und Komik erzählt der Autor eine unterhaltsame Geschichte, die oftmals groteske Züge annimmt. Seinen Figuren, für die es im Laufe der Erzählung stets tragischer wird, begegnet er dabei – wohl der Ernsthaftigkeit des Themas geschuldet – dennoch mit dem nötigen Respekt. Trotz ihrer persönlichen Misere haben sie ihren Humor nicht verloren. Zudem werden alle direkten Reden in der ersten Person und ohne Anführungszeichen wiedergegeben, was den Effekt hat, dass neben dem Ich-Erzähler auch andere Figuren gleichberechtigt zu Wort kommen. Zu früh bricht aber die Erzählung ab und lässt den Leser völlig im Unklaren. Das Buch hätte ein anderes Ende verdient.

Halten wir fest: Kai Weyand hat einen ziemlich amüsanten Roman über das Schulwesen geschrieben, das er heftig kritisiert. Die Analyse spart aber leider einige bedeutende Aspekte aus. Trotz dieser Vorbehalte lohnt sich eine Lektüre.

Titelbild

Kai Weyand: Schiefer eröffnet spanisch. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
215 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783835303188

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