Schützen, wärmen und erfreuen

Der unermüdliche Philippe Jaccottet vermag es immer wieder, Nachdenklichkeit und Lebensfreude in unverkennbarer Weise zu vereinen

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In aller Stille und Bescheidenheit, wie es seine Art ist, hat der 1925 in Moudon/Westschweiz geborene Philippe Jaccottet über Jahrzehnte hinweg ein beachtliches Werk geschaffen. Seit 1953 lebt er im südfranzösischen Grignan in der Drôme und zählt längst zu den besten französischen Dichtern der Gegenwart. Jaccottets poetische Existenz umspannt allerdings ein ganzes Bündel von Wahrnehmungsmustern. Neben betrachtender Prosa und Gedichten beeindruckt auch seine gewaltige Übersetzerleistung.

Philippe Jaccottet hat Schlüsselwerke aus dem Italienischen, Spanischen, Russischen und vor allem immer wieder aus dem Deutschen in das Französische übertragen. Neben Rainer Maria Rilke, Thomas Mann oder Johann Wolfgang von Goethe kommt Jaccottet immer wieder auf Hölderlin zurück. Auch den umfangreichen Romantorso „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil hat Jaccottet übersetzt. Ohne Übertreibung kann man ihn als einen europäischen Brückenbauer charakterisieren, der in zurückgezogener Unermüdlichkeit dafür Sorge getragen hat, daß fremde Stimmen einen angestammten Platz erhalten.

In einer Reminiszenz an seine ursprüngliche Heimat präsentiert Jaccottet in seiner zweisprachigen Anthologie „Die Lyrik der Romandie“ eine ganz persönliche Auswahl von sechzehn Dichtern aus der Westschweiz des zwanzigsten Jahrhunderts. Der biografische Bogen umspannt dabei Autoren von Charles-Ferdinand Ramuz (1878-1947) oder Blaise Cendrars (1887-1961) bis hin zu Frédéric Wandelère (*1949) oder José-Flore Tappy (*1954), deren Texte oft durch ihre lakonische Kürze bestechen: „Als einzige Uhr / der Ziegenreigen / um die reifen Feigenbäume“.

Neben gut gewählten Auswahltexten besticht diese Anthologie durch die sorgfältige Aufbereitung ihres Herausgebers. In einem einfühlsamen Kurzporträt stellt Philippe Jaccottet jeden einzelnen Autor in einer ganz individuellen Weise dar, berichtet über Leseerlebnisse oder spezifische Hintergründe. Einmal mehr beweist sich hier Jaccottet nicht nur als unbeirrbarer Beobachter, sondern vor allem auch als fleißiger Leser. Vermutlich ist ihm die Welt auch deshalb nicht ganz so fremd, da er mühelos intertextuelle Bezüge herzustellen vermag.

In seinem Nachwort verrät Jaccottet, dass er eigentlich nie so recht davon überzeugt war, dass es eine eigenständige „Literatur der Romandie“ gibt, um zugleich bestimmte Wesensmerkmale herauszuarbeiten. Er skizziert eine gewisse, durch den Protestantismus geprägte Nüchternheit, belegt einen Hang zur maßvollen Zurückhaltung sowie eine Vorliebe zur Natur.

In der Berührung des Naturraumes mit der Kultur beginnen sich atmosphärische Spannungen zu erzeugen, wie sie sich im Gedicht „Fünf Uhr, Chemin Édouard-Tavan“ von Frédéric Wandelère fast unmerkbar ankündigen: „Sie sieht fast nur noch das Licht / doch da sind Wärme und Tee / der Schritt der auf dem Kiesweg spricht und / der Garten der ansteigt zu uns, die / Düfte des Juni, ein Blütenstaub von Gelesenem / von Musik, im Geräusch der Tassen“.

Doch Jaccottet formuliert seine literarischen Bewertungen vorsichtig und ist sich über die Begrenztheit derlei Kriterien bewusst: „Sehr reine Stimmen können allzu rein werden, der Sinn für das Maß kann sich in Übervorsichtigkeit verwandeln – so wie man, anderswo als hier, beobachten kann, daß sich Phantasie in Gaukelei verwandelt, Maßlosigkeit in Geschwätz, Auflehnung in Geschrei“. Der Leser kann sich in jedem Fall davon überzeugen, dass es sich bei den Texten dieser sechzehn Autoren um eine außerordentliche Bandbreite an Motiven und Themen, wie auch an literarischen Verfahren handelt.

Der Band „Notizen aus der Tiefe“ vereint drei Texte mit Aufzeichnungen und Prosaarbeiten, die im französischen Original in drei verschiedenen Büchern erschienen sind. „Israel, blaues Heft“ berichtet von einer Israel-Reise, die Philippe Jaccottet in den späten 1990er-Jahren unternommen hatte. Wer Jaccottet als unpolitischen Träumer und Verfasser naturidyllischer Miniaturen eingeschätzt hat, kann sich hier eines besseren belehren lassen. Schwer lastet der Nahostkonflikt auf dem Autor, der aus seinem Mitleid mit den Palästinensern keinen Hehl macht: „Die Stimme ihres großen Dichters Mahmud Darwich berührt mich zutiefst. Wenn dann aber in Paris, am Ende einer Demonstration für Palästina, Extremisten eine Banderole entfalten, die besudelt ist mit der schändlichen Aufschrift ‚Tod den Juden‘, dann stoße ich einmal mehr gegen das Unentwirrbare“.

Der Hass, die Niedertracht, das Böse sind Phänomene, die Jaccottet nicht ausblendet. Er setzt sich ihnen im Gegenteil aus, um sich dann doch letztlich sein Unvermögen einzugestehen, angemessene Worte zur Beschreibung dafür zu finden. Manche Textpassagen erscheinen daher wie eine Selbstexaminierung, der Schreiber plagt sich mit Fragen ab, wie auch mit den Antworten, die er sich selbst gegeben hat. Als hilfreiche Einsicht dient Jaccottet allerdings eine Regel, „nämlich dem eigenen Wesen und der Erfahrung folgend zu sprechen; oder gar nichts mehr zu sagen. Um ‚de profundis‘ zu sprechen, muss man hinabgestiegen sein in die Tiefe; um von den Grenzen zu sprechen, muß man an sie verschleppt worden sein oder sich hingewagt haben“.

Die „Notizen aus der Tiefe“ bilden wiederum Tagebuchsplitter im typischen Stil Jaccottets und beeindrucken in ihrer geschliffenen Form einer ausgereiften Dichte. Zwei kurze Zitate mögen als Belege dienen, die Ambivalenz von Vitalismus und einer immer wiederkehrenden Nachdenklichkeit über die eigene Sterblichkeit zu illustrieren, die sich in diesen dahingestreuten Notizen verbirgt: „Das Lachen eines Kindes, wie eine Traube roter Johannisbeeren“ – „Die Nachtschwalbe, heute morgen, im Grau des Morgens, dem Haus näher als je zuvor; als könnte einer, der den Schatten so nahe ist, sie nicht mehr erschrecken“.

Diese Prosa gerät an ihren besten Stellen zur atemberaubenden Lektüre, vollkommen unerwartete Blickrichtungen tun sich auf. Immer wieder frappierend sind die bei Philippe Jaccottet gelungenen Naturbeobachtungen, die auf eine ungewöhnliche Wahrnehmungsgabe schließen lassen. Aus einem trüben Himmel eines durchschnittlichen Alltags wird ein „Verschlossener Himmel, zugemauerte Tür“. Dem bewussten Erleben der eigenen Existenz und dessen Eingebundensein in Zwänge der Zivilisation, aber auch der Schönheit der Natur möchte Jaccottet Worte verleihen, einen Text herausdestillieren: „Stärkende Worte; nicht um zu beeindrucken, sondern um zu schützen, zu wärmen, zu erfreuen, selbst für kurze Zeit“.

In der Welt der Dichter ist Jaccottet zuhause, dafür zeugen die immer wieder eingestreuten Zitate von Paul Claudel, Emily Dickinson, Eugenio Montale, Guiseppe Ungaretti und immer wieder Hölderlin.

In „Das Wort ‚Rußland‘“ setzt sich Jaccottet unter anderem mit Fjodor Dostojevskij auseinander. Neben Deutschland war es immer wieder auch Rußland, zu dessen Kultur und Literatur sich Jaccottet Zeit seines Lebens hingezogen fühlte. Freilich lässt sich Jaccottet nicht auf eine bestimmte Thematik festnageln. Entsprechend seiner Art zu schreiben beginnen seine Gedanken zu kreisen und es ist auffallend, dass Bereiche wie „Glaube“ oder „Religion“ immer wiederkehren, obwohl Jaccottet kein religiöser Denker im engeren Sinne war und ist. „Die blutigen Christusbilder der Spanier hingegen, Grünewalds ‚Gekreuzigter‘ jagten mir Angst ein: instinktiv weigerte ich mich, dies gelten zu lassen: daß die Darstellung eines Gemarterten unser Leben erhellen sollte“.

In Klammern, wie er das im Sinne eines Zwiegesprächs mit sich selbst immer wieder zu tun pflegt, merkt er an, dass er heute bestimmte Dinge zu verstehen beginnen „könnte“ – „ich lasse es nicht gelten, doch ich beginne zu begreifen, in welchen Tiefen dieser Baum verwurzelt ist“. Und er resümiert, dass die Tragik und die Kraft der christlichen Botschaft am ehesten in den Kunstwerken wie Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion oder Fjodor Dostojewskijs „Der Idiot“ zu erahnen seien, und „gewiß nicht mit Hilfe elektrischer Gitarren“.

Mit den „Notizen aus der Tiefe“ liegt eine Synthese der Altersweisheit eines Homme de lettres vor, deren Titel exemplarischen Charakter besitzen. Die Texte gleichen Bildern, an denen nichts zuviel und nichts zuwenig ist. Zur Malerei hatte Jaccottet freilich zeitlebens einen intensiven Bezug. Exemplarisch sind dabei seine Gedanken über das Wesen der Kunst, die durch die Bilder des italienischen Malers Giorgio Morandi angeregt wurden – und schließlich ist Philippe Jaccottet seit 1953 mit der Malerin Anne-Marie Jaccottet verheiratet.

Titelbild

Philippe Jaccottet (Hg.): Die Lyrik der Romandie. Eine zweisprachige Anthologie.
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2008.
272 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783312004072

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Titelbild

Philippe Jaccottet: Notizen aus der Tiefe.
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl, Wolfgang Matz, Friedhelm Kemp.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
176 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446232877

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