Eine Epoche wird anschaulich gemacht

Diarmaid MacCullochs monumentale Geschichte der Reformation

Von Winfried StanzickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Winfried Stanzick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es vorweg zu sagen: dieses 2003 zuerst in England publizierte Buch des englischen Professors für Kirchengeschichte an der Universität in Oxford ist auf ganz hervorragende Weise geeignet, sowohl interessierte Laien als auch Theologen beider christlicher Konfessionen wieder mit jener Geschichte bekannt zu machen, die mehr verändert hat als nur die konfessionelle Landschaft in Europa.

Sowohl als – zugegeben sehr umfangreiche – Einführung in die Materie, als auch als vertiefende und korrigierende Lektüre für Fachleute und Kenner der Kirchengeschichte ist dieses Buch geeignet. Bietet es doch mit seinem gelehrten und gleichwohl erzählerischen Stil und seiner, mit geschärftem Sinn für Stil und Witz ausgezeichneten Sprache eine nicht nur lehrreiche Lektüre, sondern auch einen wirklichen Genuss. Das Buch beschränkt sich nämlich nicht nur auf den deutschen Teil der Reformationsgeschichte, sondern nimmt in einer Gesamtschau die politischen, religiösen, sozialen und mentalitätsgeschichtlichen Prozesse auf dem ganzen europäischen Kontinent in den Blick.

MacCulloch beschreibt sehr anschaulich, wie zahlreiche historische Ereignisse an den Rändern Europas auf das bekannte zentrale Reformationsgeschehen eingewirkt haben und auch, wie diese umgekehrt wieder bisher nicht ausreichend gewichtete, weitreichende Auswirkungen auf das europäischen Staatengefüge hatten.

Das Buch bestätigt aufs Neue, was viele andere Historiker, besonders aus Frankreich, in den letzten Jahren immer wieder betont haben: Dass, was im von MacCulloch so genannten „reformatorischen Zeitalter“ an politischen, religiösen und sozialen Umwälzungen geschehen ist, ebnete den Weg in die Neuzeit und bestimmt unsere Wirklichkeit auch heute noch mehr, als man – von der Säkularisation geprägt – ahnen wird.

MacCulloch beschreibt ein Pluriversum christlicher Möglichkeiten, das durch die Reformation in die Welt kam und die bisherige alleinige katholische Interpretations- und Deutungsmacht der Bibel und der christlichen Lehre ablöste. Mit weitreichenden Folgen auch für die katholische Kirche. Denn sie musste nun, wie die Protestanten, ihre Interpretation der Geschichte Christi historisierend verwissenschaftlichen. Mit all ihren Fragen und Zweifeln ist selbst sie mittlerweile nur eine weitere reformierte, sich dauernd selbst reformierende und gegen andere protestierende Einrichtung, so McCulloch, denn auch er ist der Meinung, dass sich in allen Annäherungen an das Wort Gottes, das Mensch geworden ist, ein Teil der unendlichen und unbegreiflichen Wahrheit offenbare.

Diese an der Diskurstheorie geschulte Haltung hat einiges für sich. Es wäre wünschenswert, wenn sich die verschiedenen christlichen Konfessionen dieses Diskurscharakters bei der Suche nach der Wahrheit mehr bewusst würden in ihrem nach wie vor schwierigen und von Dominanzstreben geprägten Dialog.

Bis dies erreicht ist, hat sich vielleicht auch die dringend anstehende Reformation im Bereich des Islam weiter entwickelt, und die Religionen können sich irgendwann einmal in ferner Geschichte auf die gemeinsame Suche nach der Wahrheit dessen machen, der all unser Denken und Handeln übersteigt. Aber das wird man wohl so schnell nicht erleben. Denn eines zeigt das vorliegende Buch: reformatorische Prozesse dauern lange und sind nicht linear.

Titelbild

Diarmaid MacCulloch: Die Reformation. 1490-1700.
Übersetzt aus dem Englischen von Helke Voß-Becher und Klaus Binder.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008.
1022 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783421059505

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