Werk als Leben, Leben als Werk

Detlev Claussens Nicht-Biografie über Theodor W. Adorno

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theodor W. Adornos 40. Todestag am 6. August 2009 ist ein geeigneter Anlass, an die gewichtige Studie zu erinnern, die Detlev Claussen zuerst 2003 vorgelegt hat und die seit einigen Jahren auch in einer preisgünstigen Taschenbuchausgabe erhältlich ist. „Studie“ ist freilich ein sehr allgemeiner Begriff; eine Notlösung, geschuldet der Sachlage, dass das Genre des Buchs nur schwer zu bestimmen ist.

Claussen geht von dem Misstrauen aus, das im Umkreis der Kritischen Theorie gegen die zeitgenössische Biografistik herrschte und angesichts der Massenware, wie sie Emil Ludwig oder Stefan Zweig produzierten, nur allzu verständlich ist. Allzu schnell gerät in der Bereich der Individualpsychologie, was doch als Individuelles gesellschaftlich vermittelt ist – und allzu schnell erscheint ein Lebensweg teleologisch als Erfüllung eines von früh an Vorbereiteten und gerät die Biografie zur Feier einer fraglos gegebenen Identität, wie sie aus Sicht der Frankfurter Schule nicht mehr umstandslos zu haben ist.

Das Gegenmodell wäre, sich aufs Werk zu konzentrieren. Die Texte würden aber so der Umstände beraubt, unter denen sie entstanden. Claussen versucht deshalb, ein Lebensbild aus den Texten zu rekonstruieren – aus Privatbriefen ebenso wie aus theoretischen Äußerungen; und er versucht gleichfalls, die Theorie an das Leben rückzubinden.

Jeweils umfangreiche Kapitel kreisen um Kindheit, das Leben der Intellektuellen in der Weimarer Zeit, das Exil, die Rückkehr nach Deutschland und schließlich die Arbeit im Frankfurt der Nachkriegszeit. Doch gilt diese Chronologie nur sehr ungefähr und bestimmen Vor- und Rückgriffe die einzelnen Teile.

Als leserfreundlich mag gelten, dass die Kapitel so angelegt sind, dass sie einzeln rezipiert werden können. Aufs Ganze betrachtet führt das freilich zu ermüdenden Wiederholungen. Auch gibt es manchmal über sechzig oder achtzig Seiten keinerlei Untergliederung und leitet Claussen oftmals eher assoziativ vom einen Aspekt zum anderen über. Die Verlagswerbung auf dem Buchrücken, er lasse „Adorno für ein großes Publikum lebendig werden“, mag verkaufsfördernd wirken – tatsächlich liest man dieses Buch nur dann mit Gewinn, wenn man Adornos Werk bereits überschaut.

Das Buch hat Stärken. Klar und begründet unterscheidet Claussen Adornos Kritik an der Kulturindustrie von konservativer Kulturkritik und zeigt er auch auf, dass das modernere Amerika keineswegs als negatives Schreckbild im Gegensatz zu einem idealisierten Europa bildete. Vielmehr wird deutlich, dass erst die Erfahrungen mit Wissenschaft und Gesellschaft der USA Adorno von dem Musiker und Essayisten der Weimarer Zeit zu dem Soziologen machten, als der er in der Nachkriegszeit auch wirkte.

Ebenso überzeugend ist, wie Claussen Adornos intellektuelles Umfeld vorstellt. Passagenweise meint man, eine Gruppenbiografie zu lesen: Immer wieder treten Max Horkheimer, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, aber auch Ernst Bloch, Hanns Eisler, Bertolt Brecht und Georg Lukács auf. Sicher sind manche Wertungen ungerecht: Die argumentlose Häme, die die vier letztgenannten wegen ihrer zumindest zeitweisen Nähe zur KPD zu erdulden haben, wird den historischen Umständen nicht gerecht und ist von einer primitiven Totalitarismustheorie nur schwer zu unterscheiden. Doch gelingt Claussen eine erhellende Schilderung einerseits von Phasen einer produktiven Zusammenarbeit, andererseits aber von Konflikten um Rang und Versorgung und von zeitweise schwer überbrückbaren Differenzen.

Es liegt am Ansatz der Studie, dass das Leben da anschaulich wird, wo es Textzeugnisse gibt. Claussen hat die umfangreichen Briefwechsel ausgewertet, auch wo er, wie bei der inzwischen publizierten Korrespondenz mit Kracauer, 2003 noch nicht zitieren durfte. Ein wenig ins Hintertreffen geraten dabei die Kämpfe, die Adorno und die die Frankfurter Schule überhaupt mit Gegnern auszufechten hatten. Auch wenn unmittelbar nach 1950 Horkheimer als Ordinarius dabei die Hauptlast zu tragen hatte: dass allein von den Konflikten um Jürgen Habermas’ Frankfurter Habilitationsplan 1958/59 und von Adornos Konfrontation mit der Studentenbewegung die Rede ist, macht ein wenig vergessen, wie stark die konservativen Kräfte noch waren. Claussen weiß das, und er benennt es; indem er solche Konflikte aber am Rande lässt, entsteht ein recht einseitiges Bild.

Ein wenig problematisch ist auch das Gewicht, das Claussen der jüdischen Herkunft fast aller der Genannten verleiht. Unter biografischen Gesichtspunkten ist das klug durchgeführt: Akribisch sind die Herkunftsmilieus differenziert, so dass der Allgemeinbegriff „wohlhabendes Bürgertum“ nicht mehr die unterschiedlichen Kindheits- und Jugenderfahrungen überdeckt. Auch stellen die Vertreibung, Exilprobleme und das Bewusstsein, zu denen zu gehören, die eigentlich hätten ermordet werden sollen, eine gemeinsame Erfahrung dar; und sicher hat diese Erfahrung die Wahrnehmung geschärft und Eingang ins Werk gefunden. Doch bedeutet es auch eine Gefahr, dies zu betonen: denn an Stelle verbindlichen Philosophierens, über das zu streiten ist, ständen dann individuelle Weltanschauungen, die man zu respektieren hätte. Dies aber wird der Kritischen Theorie nicht gerecht: Sie beansprucht, eine gültige Darstellung der Welt zu sein. Claussens Unterfangen, Leben und Werk aufeinander zu beziehen, führt zu erhellenden Gedanken im Detail, doch stellt es sich als fragwürdig heraus, wo das Werk biografisch relativiert wird.

Titelbild

Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
508 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3596159601
ISBN-13: 9783596159604

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