System und Lebenswelt

Stefan Müller-Doohm beschreibt Leben, Werk und Wirkung von Jürgen Habermas

Von Mario WenningRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wenning

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine Seltenheit, dass einem Intellektuellen noch während seiner Lebenszeit der Status eines Klassikers zugesprochen wird. Jürgen Habermas, der vor wenigen Wochen seinen 80. Geburtstag in voller Vitalität feierte, ist diese Ehre schon früh zuteil geworden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass neben dem unüberschaubaren und stetig anwachsenden Berg an Sekundärliteratur nun eine weitere einführende Biografie erschienen ist.

Habermas’ Oldenburger Biograph Stefan Müller-Doohm hat sich zuvor unter anderem durch eine umfassende Adorno-Biografie hervorgetan. Nun legt er in der Reihe „Suhrkamp BasisBiographie“ eine Einführung in das Leben, Werk und die Wirkung des vielleicht einzig verbleibenden deutschen Denkers mit internationaler Bedeutung vor – sieht man einmal vom Papst ab. Im Gegensatz zum gerne auch einmal undurchsichtigen Stil Habermas’scher Texte vermag es der Autor, jargonfrei und in aller Kürze seine wichtigsten biografischen Stationen, Grundgedanken und deren Wirkung nachzuzeichnen.

Worin liegt Habermas’ enormer Erfolg begründet? Spätestens seit seiner bahnbrechenden Studie über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ aus dem Jahr 1959 zeichnete sich ab, dass man mit Habermas zu rechnen hatte. Es folgte eine Reihe weiterer Hauptwerke zu Fragen der kommunikativen Vernunft, der Natur des Rechts und der Moral, der internationalen Gerechtigkeit, des Terrorismus, der Bioethik und der Beziehung zwischen Glauben und Wissen – Werke, die Diskussionen auslösten oder bereits bestehenden Diskussion eine neue Stoßrichtung verliehen.

In öffentliche Debatten, etwa über die Bedeutung der Studentenbewegung, die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, den Kosovokrieg, die beiden Irak-Kriege und die Zukunft Europas, meldete sich Habermas stets unprätentiös, aber darum nicht weniger tonangebend zu Wort. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die bundesrepublikanische Öffentlichkeit und die Nachkriegsphilosophie wesentlich durch Habermas geprägt wurden. Längst ist er Staatsphilosoph wider Willen, ein „Hegel der Bundesrepublik“.

Seit den 1970er-Jahren kann Habermas auch auf eine steile internationale Karriere zurückblicken, die ihn endgültig vom Erben und Weiterentwickler der Frankfurter Schule zu einem der bedeutendsten Intellektuellen der Gegenwart werden ließ. Er wurde mit den renommiertesten internationalen Preisen ausgezeichnet und durch zahlreiche Ehrendoktortitel gewürdigt. Das Erfolgsrezept ist nicht in der unscheinbaren Person Habermas zu suchen, sondern in der Grundbestrebung, die Errungenschaften des unabgeschlossenen Projektes Moderne mit Argumenten und Gegenargumenten gegen ihre Verächter zu verteidigen. Dabei hat Habermas geschickt verschiedene Traditionen und Disziplinen aufgenommen und miteinander zu verknüpfen gewusst. Auch hochschul- und öffentlichkeitspolitisch hat sich Habermas durchzusetzen vermocht. Das System Habermas zeichnet sich durch Anschlussfähigkeit aus.

Habermas’ größter Verdienst dürfte darin bestehen, die Rolle des öffentlichen Intellektuellen in Zeiten einer zunehmenden Spezialisierung und Verwissenschaftlichung gerettet zu haben. Dies ist ihm gelungen, ohne sich parteipolitisch vereinbaren zu lassen. Nicht selten hat er durch seine öffentlichen Interventionen griffige Formeln wie die des Linksfaschismus, des Verfassungspatriotismus, des nachmetaphysischen Denkens oder des zwanglosen Zwangs des besseren Argumentes geprägt.

In Peking, Paris, Buenos Aires oder New York muss man seinen Habermas beherrschen, um sich nicht bloßzustellen. Müller-Doohms’ Habermasfibel eignet sich durch ihre Kürze dazu, einen Überblick über das äußerst umfangreiche und komplexe Werk zu verschaffen.

Mehr sollte man sich von der Lektüre aber nicht erhoffen. Das Porträt bietet keine eigenständige Interpretation und fördert auch keine Erkenntnisse zu Tage, die nicht schon in einer Reihe ähnlich ausgerichteter Veröffentlichungen – etwa der Biografie von Rolf Wiggershaus – aufgearbeitet worden wären. Die lebensweltlichen Erfahrungen hinter dem Werk bleiben verborgen.

Gewünscht hätte man sich zudem kritische Reflexionen über die bleibende Relevanz eines Denkers, dessen Grundgedanke des herrschaftsfreien, auf Verständigung ausgerichteten Diskurses von vielen weder als originell, noch als viel versprechendes Mittel, gesellschaftliche und politische Konflikte zu analysieren, betrachtet wird. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass Habermas wie ein Schutzheiliger verteidigt wird. Dass ein solch unkritischer Diskurs dem „Meister der Kommunikation“ gefallen würde, bleibt zu bezweifeln.

Titelbild

Stefan Müller-Doohm: Jürgen Habermas. Leben - Werk - Wirkung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
157 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-13: 9783518182383

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