Lehrjahre Walter Benjamins

Sandro Pignottis Dissertation wirft einen neuen Blick auf die jüdischen Inhalte in Walter Benjamins Schriften

Von Philipp WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Dissertation „Walter Benjamin – Judentum und Literatur“ unternimmt Sandro Pignotti den Versuch, neue Einsichten in Walter Benjamins Haltung zum Zionismus und zur jüdischen Tradition zu verschaffen. Diverse Interpreten haben diesen Versuch bereits vor ihm unternommen, meist aber wurden die jüdischen Einflüsse in Benjamins Philosophie als von eher peripherer Art beurteilt.

Pignotti nun ist an einer Repotenzierung dieser Einflüsse gelegen. Dafür macht er den Begriff der Lehre in Benjamins Schriften stark und bemüht sich um eine Lesart, die die jüdische Tradition vor allem in Benjamins Auseinandersetzung mit der europäischen Literatur wiedererkennt (und hier vor allem in dessen Kafka-Lektüre).

Das Buch selbst ist unterteilt in drei Komplexe von unterschiedlicher Gewichtung: „Zionismus und Jugendkultur“, „Kulturzionismus“ und „Die Begriffe Tradition, Ursprung und Lehre in Literatur- und Philosophiekritik Walter Benjamins“ lauten die drei Abschnitte, wobei der letzte Teil sich am umfangreichsten gestaltet.

Im ersten Teil werden zunächst die Jugendjahre Walter Benjamins in Augenschein genommen – stets im Hinblick auf dessen Auseinandersetzung mit dem Zionismus. In einigen verstreuten Briefen ab 1910 macht Pignotti diese erste Auseinandersetzung aus, auch wenn sich Benjamin hier nie als ein klarer Befürworter des Zionismus zu erkennen gibt. Dennoch wirft die Relektüre von Frühschriften und Korrespondenzen neues Licht auf den jungen Benjamin und dessen Prägung. Die jüdische Disposition wird deutlich, wenn auch eine konkrete Beschäftigung seitens Benjamins zu dieser Zeit nie in bewusster Form stattfand. Pignotti geht es aber auch viel mehr um eine, wie es heißt, „strategische Ursprungsdialektik zwischen Literatur und jüdischen Traditionsformen“. Die jüdischen Lehren erhalten über den strategischen Umweg der Literatur Eingang in die Schriften Benjamins, so Pignottis These: „Es sei noch einmal gesagt: Für Benjamin zeigt sich ‚das Jüdische’ nur auf dem Gebiet der Literatur und der Sprache“. Eben diese These wird zu späterem Zeitpunkt der Arbeit, anhand des Kafka-Aufsatzes, genauer expliziert.

Zunächst skizziert Pignotti im zweiten Teil seiner Dissertation die Geschichte des Zionismus nach. Fundiert dargelegt, fügt er in knapper Form die wichtigsten ideengeschichtlichen Stationen an. Dieser mehr als Einführung dienende Teil kann in Bezug auf Benjamin jedoch mit kaum neuen Erkenntnissen aufwarten.

Im dritten und abschließenden Teil findet dann die konkrete Analyse jüdischer Einflüsse anhand von Textbeispielen statt. Pignotti geht dabei zunächst von einem einzelnen Satz Benjamins aus – enthalten in einem Fragment von 1917/18 – auf den sich die weiteren Untersuchungen stützen. Leider wird eben dieser Satz zum einen nicht in dem Kontext dargestellt, in dem er steht, zum anderen wird er aber auch nicht einmal vollständig zitiert („Alle Erkenntnisse müssen durch ihren latenten symbolischen Gehalt Träger einer gewaltigen symbolischen Intention sein […] dessen entscheidende Kategorie Lehre […] nicht Erkenntnis ist“, so der Satz bei Pignotti). Dieser doch schwache Beleg dient im weiteren dazu, bei Benjamin eine Bevorzugung der Lehre gegenüber philosophischer Erkenntnis auszumachen (die im ursprünglichen Zitat Benjamins ebenfalls angeführte Kategorie der Wahrheit wird dabei im Übrigen glatt übergangen). Mit der Lehre ist dabei die des Talmudstudiums gemeint, die bereits Gershom Scholem für die Jahre 1915 bis 1927 als von „zentraler Bedeutung“ für Benjamin herausstellte. Nach Pignottis Ansicht nun aber „deckt die Lehre Benjamins gesamte Produktionsphase ab“. Problematisch wird diese Repotenzierung der Lehre, weil sie stets in Opposition zu philosophischer Erkenntnis geschieht und zudem diese Opposition bei Benjamin in der Form nicht zu belegen ist. So spricht etwa die Vorrede des Trauerspielbuchs sehr wohl von einer Erkenntniskritik, jedoch in Bezug auf die philosophische Tradition (in der Kritik lediglich eine beurteilende Abhandlung bezeichnet) und nicht etwa aus dem Grund, dass Benjamin „keine Erkenntnistheorie […] vortragen kann“. Anstelle des präsentierten Oppositionsverhältnisses wäre vielmehr eine Analyse der dialektischen Durchdringung von theologischem und philosophischem Gehalt wünschenswert gewesen, die doch eben Benjamins Denkstil seinen einzigartigen Charakter verleiht – so heißt es etwa in seiner bekannten Formulierung: „Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben“.

Es folgt eine Interpretation diverser Schriften Benjamins, stets unter dem Aspekt der Lehre (so etwa beim „Hölderlin-Aufsatz“, der „Dissertation zur Kunstkritik“, dem „Wahlverwandtschaften-Essay“ und dem „Kunstwerk-Aufsatz“). Hierbei eröffnen sich interessante und bislang unentdeckte Bezüge, so etwa im Hinblick auf Benjamins genuine Form der dialektischen Betrachtung, die in Gestalt einer Konstellation verfährt – welche wiederum der „Text- und Lehrstruktur des Talmuds sehr verwandt“ ist. Dieser Aspekt erhellt auch Benjamins ganz eigenen Mosaikstil, der eben ein ständiges Absetzen und Neubeginnen im Denken bedeutet. Auch dieser findet sein Ursprung im hebräischen „Musivstil“ – von Benjamin selbst im Trauerspielbuch angeführt, wo er von der „musivischen Arbeit“ spricht. Solche neuartigen Lesarten sind es, die der Arbeit Pignottis originellen Charakter verleihen, daneben aber wirkt die Anwendung seiner eigentlichen These der Lehre auf Benjamins Schriften leider zu oft überspannt. Ihren Abschluss findet die Dissertation in der Kafka-Interpretation Benjamins. Es werden zunächst erneut die jüdischen Implikationen in den Werken Kafkas stark gemacht. Benjamin tritt dabei als derjenige auf, „der damit begann, Kafka über den Begriff der Lehre auf dessen sprichwörtlichen, mündlichen und haggadischen Gehalt hin zu untersuchen“. Mittels ihrer mündlichen Tradierbarkeit erhält sich so in Kafkas Werk „ein zeitgemäßer […] Lehrgriff“, so die Schlussfolgerung Pignottis.

Die Reinterpretation der jüdischen Gehalte bei Benjamin ist Pignotti an vielen Stellen gelungen, einige bislang unentdeckte Zusammenhänge werden der Forschung hiermit zugänglich. Ärgerlich hingegen ist etwa die poststrukturalistische (meist Foucault’sche) Brille, durch welche das Werk Benjamins allzu oft betrachtet wird. Benjamin wird dergestalt zum Autor von „bios“, „Endlichkeit“ und „Gouvernementalität“ – was eben dann problematisch wird, wenn man Benjamin eine Abkehr von Erkenntnis und Wahrheit unterstellt.

Titelbild

Sandro Pignotti: Walter Benjamin - Judentum und Literatur. Tradition, Ursprung, Lehre mit einer kurzen Geschichte des Zionismus.
Rombach Verlag, Freiburg 2009.
300 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783793095477

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