Eine normale australische Welt

Garry Disher schreibt weiter an seiner australischen Comédie humaine

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Krimireihe zu schreiben, in der der Hauptserienheld fast gar nicht mehr auftritt, ist schon gewagt. Etwas drastischer waren bisher nur Arthur Conan Doyle und Nicolas Freeling, die ihren Helden einfach umbrachten (wobei Doyle seinen Sherlock Holmes gezwungenermaßen wieder zum Leben erweckte). Der Australier Garry Disher macht in seinem neuesten Buch aus der Hal-Challis-Serie jetzt etwas ähnliches: Er degradiert Challis zur Nebenfigur.

Denn Challis weilt bei seinem sterbenden Vater in einem Wüstenkaff, seinen Job übernimmt vier Wochen lang seine Kollegin Ellen Destry. Ganz normal – denn auch Polizisten haben mal Urlaub. Und so muss er sich um seine Familie und seine Vergangenheit kümmern (und einen unaufgeklärten Fall dort oben, den des verschwundenen Schwagers Gavin Hurst) und Destry um die verschwundene zehnjährige Katie Blasko. Der Fall ist nicht einfach, denn es gibt keine Leiche und auch keinen Erpresser, stattdessen das Gerücht eines Pädophilenrings.

Ansonsten ist alles wie gehabt bei Disher: Es gibt ein breites Band an Beziehungen unter den Polizisten, an eigenen Geschichten. Destry selbst ist sich nicht ganz sicher, welche Beziehung sie überhaupt zu Challis hat oder haben will. Ihr Liebhaber ist er nicht, ein Freund bestimmt, aber in welcher Art? Immerhin hütet sie schon mal sein Haus in seiner Abwesenheit. Außerdem ist ihre Beziehung zu ihrer Tochter, die jetzt studiert, nicht ganz einfach. Pam Murphy beteiligt sich am Auswahlverfahren zum Detective und will Karriere machen. Ihr Kollege John Tankard ist neidisch auf sie und hat für geliehene dreißigtausend Dollar sein Traumauto gekauft. Leider muss er erfahren, dass es für Australien nicht zugelassen ist. Und dann sind da noch die Jarretts – eine Familie aus Asozialen und Verbrechern, die vor allem von Diebstählen leben und vielleicht nicht einmal davor zurückschrecken, andere zu überfahren. Aber dafür gibt es keine Beweise.

So bastelt Disher weiter an seiner australischen Comédie humaine, einer normalen Welt der sozialen Mittel- und Unterschicht, mit Menschen voller Probleme und Fehler, alltägliche Sorgen und alltägliche Versuche, ihre Probleme zu lösen. Und die sind nicht immer legal, nicht immer fein. Auch nicht bei den Polizisten, die sich immer wieder in kriminelle Handlungen verstricken lassen.

Vor allem beim Fall von Katie, die glücklicherweise bald wieder gefunden wird, körperlich unverletzt, aber seelisch verstört. Die Polizei findet die Täter, aber sie kann nicht beweisen, dass sie es auch waren. Es gibt Pannen im Labor, die Zeugen wirken unglaubwürdig, möglicherweise sind Polizisten am Verbrechen sogar beteiligt und vertuschen, was sie nur können. Vielleicht hilft da wieder Gegengewalt. Damit endlich mal Ruhe ist.

Disher zeichnet wieder einmal ein düsteres Bild von einer Gesellschaft, die auf sozial Schwache, auf Kleinkriminelle und Sozialhilfeempfänger fast nur noch mit Gewalt reagieren kann und deren Wohnviertel am liebsten meidet. Eine Gesellschaft zudem, die eine offizielle Lesart von Beziehungen zwischen Eltern und Kindern hat, aber deren Wirklichkeit anders aussieht. Denn da gibt es genauso viel Gewalt wie überall sonst auch.

So weitverzweigt diese Geschichte ist, so genau ist sie von Disher komponiert. Nie verliert man den Überblick, auch nicht bei der stets wechselnden Perspektive, immer bleiben die Charaktere glaubwürdig und lebendig, auch wenn sie sich schön in ihre Gefühle verstricken. Wahrscheinlich, weil es uns allen ähnlich geht.

Titelbild

Garry Disher: Beweiskette. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, Zürich 2009.
440 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783293004016

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