Erzählerisch experimentell, inhaltlich brisant

Uwe Johnsons „Mutmassungen über Jakob“ im Faksimile der Erstausgabe von 1959

Von Christian KrepoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Krepold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Uwe Johnsons Debütroman „Mutmassungen über Jakob“ war die aufsehenerregende Neuerscheinung des Suhrkamp Verlags zur Frankfurter Buchmesse 1959. Dieser Roman, eine Entdeckung Siegfried Unselds, war der Anteil des Verlags an dem für die deutsche Nachkriegsliteratur so bedeutenden Jahr 1959, das in der Literaturgeschichte als Zäsur gelten kann: Günter Grass’ „Blechtrommel“, Heinrich Bölls „Billard um halbzehn“, Paul Celans „Sprachgitter“ und eben Johnsons „Mutmassungen über Jakob“. Das war für Suhrkamp Grund genug, im Jubiläumsjahr 2009, in dem der Autor auch seinen 75. Geburtstag gefeiert hätte, eine Sonderausgabe als Faksimile der Erstausgabe mit Originalausstattung, mit dem sehr aufschlussreichen Klappentext und den „Angaben zur Geschichte Jakobs“ auf der Umschlagrückseite, herauszubringen. Für die Verlagsgeschichte wichtige Romane mit Faksimileausgaben zu feiern, hat schließlich inzwischen Tradition, man denke etwa an die Sonderausgaben der „Buddenbrooks“ oder des „Zauberbergs“ von Thomas Mann im S. Fischer Verlag.

Unterschieden hatte sich Johnsons Text von den genannten Neuerscheinungen des Jahres 1959 vor allem durch die Wahl des Stoffs. Während Grass und Böll die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit thematisierten, wandte sich Johnson der Gegenwart des geteilten Deutschland zu, der Plot ist im Jahr 1956 situiert: „Das Unheimliche in der Situation eines zwischen den Mächten geteilten Volkes hat eine solche tiefgründige Darstellung noch nicht gefunden“, heißt es in der ersten Besprechung des Romans. Als „Roman der beiden Deutschland“ wurden die „Mutmassungen“ in der FAZ tituliert und ihr Autor damit als „Dichter beider Deutschland“ etikettiert, wogegen er sich allerdings immer wieder wehrte, da eine solche Aussage doch die westliche Sicht auf das geteilte Deutschland implizierte. Der Roman hingegen entwirft vielmehr eine östliche, von Vorurteilen bestimmte Sicht auf den Westen, so dass sich Siegfried Unseld gar veranlasst sah, Johnson auf dieses Manko der „Mutmassungen“ brieflich hinzuweisen: „Sie haben, verständlicherweise, wie könnte es auch anders sein, gewisse vorgeprägte Vorstellungen im Hinblick auf westliche Verhältnisse. Sie sind ja jetzt in Berührung mit dieser Welt, und sicherlich wird sich für Sie ein neuer Erlebniskreis aufschließen.“

Im Verlagsvertrag mit Suhrkamp war allerdings auch vereinbart, dem Ostberliner Aufbau Verlag nach Erscheinen des Romans ein – wie Johnson es im Briefwechsel mit seinem Verleger selbst nannte – „tückisches“ Angebot für eine Lizenzausgabe in der DDR zu machen. Erzählerisch experimentell, inhaltlich brisant wurde der Roman noch 1989 vom Lektorat des Aufbau Verlags als ungeeignet für eine Publikation in der DDR eingestuft, und das trotz einer verhaltenen Rehabilitierung des Republikflüchtlings Johnson in den 1980er-Jahren. Erst nach 1989 wurde der Roman der „beiden Deutschland“ zum Klassiker im wiedervereinigten Deutschland, und sein Autor fand späte Anerkennung auch in jenem Landesteil, den er 1959 verlassen hatte, um seine „Mutmassungen“ in der Bundesrepublik veröffentlichen zu können.

„Ich kann mir gut denken, welches einschneidende Gewicht der Schritt über diese Grenze für Sie bedeutet“, schrieb Siegfried Unseld in seinem ersten Brief an Johnson im Juli 1959. Grenzen werden auch im Roman selbst überschritten und das in mehrerlei Hinsicht: erzählerisch, indem der Roman die verschiedenen – auch typografisch differenzierten – Erzählstimmen (Erzählerrede, Dialog und Monolog) verschränkt; inhaltlich, indem immer wieder die innerdeutsche Grenze passiert wird; metaphorisch, indem der Tod Jakobs die Grenze jener Hoffnung auf eine Entstalinisierung in der DDR markiert, die mit der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands ihr jähes Ende fand.

Auch heute noch modern und innovativ ist Johnsons Erzählweise, mittels welcher in Form von Mutmaßungen eine fragmentierte Lebensgeschichte Jakobs zusammengetragen wird. Damit ließe sich der Roman auch in den sich großer Beliebtheit erfreuenden biografischen Diskurs der Gegenwartsliteratur einreihen. Und schließlich dürfte auch die räumliche Strukturierung der Narration das Interesse einer narratologisch perspektivierten Literaturwissenschaft nach dem spatial turn auf sich ziehen. All dies macht Johnsons „Mutmassungen über Jakob“ zu einem der großen Romane des 20. Jahrhunderts, zu einem modernen Klassiker, der auch am Beginn des 21. Jahrhunderts nichts an Aktualität eingebüßt hat – außer freilich, dass der damalige Gegenwartsbezug heute nur noch von zeitgeschichtlichem Interesse ist, zwanzig Jahre nach der „Wende“.

Titelbild

Uwe Johnson: Mutmassungen über Jakob. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
308 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783518420904

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