Ein Labyrinth ohne Hoffnung, aber voller Gespenster

Geschichte heißt, das kommt erst noch: Thomas Stangls Zeitroman „Was kommt“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dies ist ein Roman des Dazwischen: zwischen Erzählen und Nicht-Erzählen, Vergangenheit und Zukunft, zwischen Raum und Zeit, Leben und Tod, Möglichkeit und Wirklichkeit. Selbst die Protagonisten Thomas Stangls wirken seltsam halbfertig, wie „Gebilde aus Draht und Wörtern“ oder verblassende Porträts, gewinnen immer nur vorübergehend Form und Kontur, kämpfen mit ihrer Sprache, ihrer Identität, ihrem Geschlecht.

Die Figuren, von denen der Österreicher Stangl abwechselnd berichtet, das sind: Emilia Degen, die man schon aus seinem Roman „Ihre Musik“ (2006) kennt, und Andreas – zwei Pubertierende in Wien. Die beiden wissen nichts voneinander, liegen doch vier Jahrzehnte zwischen ihnen. Emilia lebt im Sommer 1937, also kurz vor dem „Anschluss“, als die Schulstunden noch mit dem gemeinsamen Ruf „Österreich“ beginnen, in der jüdisch geprägten Wiener Leopoldstadt; Andreas irgendwann Ende der 1970er-Jahre, als Hans Rosenthal noch in die Höhe springt und im Radio „I don’t like Mondays“ brandneu ist.

Eine unüberwindbare Barriere sind die 40 Jahre Zeitunterschied jedoch nicht. Nicht für den Leser dieses ebenso faszinierenden wie anspruchsvollen Geschichts- und Zeitromans, dem sich überall überraschende Verbindungen und Übergänge auftun, nicht für die Figuren, die sich manchmal an bestimmten Orten wie dem Vorkai am Donaukanal fast zu begegnen scheinen. Und auch nicht für einen namenlosen Dritten, einen christusähnlichen Wanderer zwischen den Zeiten eines kulissenhaften Wiens, dessen Identität erst gegen Ende offenbar wird. Zwischen Emilia und Andreas bestehen viele Gemeinsamkeiten: Beide leben bei ihren Großmüttern, beide sind in ihren Schulen Außenseiter und vielleicht deshalb sensibel für Stimmungen, Erlebnisse der Zeitdehnung und der Erfahrung, mit Räumen oder Personen scheinbar zu verschmelzen.

Doch es gibt auch Unterschiede: Die 17-jährige Emilia leidet unter der Dumpfheit und Enge des austrofaschistischen Ständestaates, will studieren, andere Länder kennenlernen. Sie „weiß, die wirklichere Welt ist die Welt des Verbotenen, kleine Inseln, ausgeschnittene Orte, die sich ausdehnen können, über die Grenzen hinweg ins Feindesland“. Andreas dagegen, der in der Klasse gemobbt wird – „Adamek, Berger, Kernberger, Tröstl“ lautet die wiederkehrende Aufzählung seiner Feinde –, ist von eher regressiven Wünschen erfüllt: Nacht für Nacht bohrt er mit dem Finger in einem Loch in der Wand, träumt davon, sich so eine Öffnung zu schaffen, in der er verschwinden kann, „die Enge soll ihn umschließen: im Inneren der Höhlungen, die erst im allerengsten Raum entstehen, entdeckt er Weiten, die sich nicht ermessen lassen“.

Als Abkömmling aus dem Geschlecht der Chandos’ ist ihm die Sprache unheimlich, vermag ihn doch jedes Wort und jeder Satz unfreiwillig festzulegen. So kritzelt er in sein Schulheft hilflos das Hakenkreuz neben den RAF-Stern und schockiert seine Umwelt mit von der Großmutter aufgeschnappten Phrasen („Ich mag den Kreisky auch nicht, mit seiner Judennase“), die ihn erst recht zum Paria werden lassen. Er nennt das die „Wörter vor die Angst stellen“.

Andreas’ Antisemitismus ist nur ein sinnentleertes Zitat der Vergangenheit, für Emilia ist er Gegenwart und Zukunft. „Geschichte heißt nicht, all das ist aus und vorbei“, erklärt Emilias Geschichtslehrer kurz vor seiner Emigration, „Geschichte heißt, das kommt erst.“ Anders als Emilia weiß der Leser, was kommen wird. Zumindest für kurze Zeit, den „einzigen Sommer ihres Lebens“, wird Emilia die ersehnte Weite und die Liebe kennenlernen, wird verbotene Bücher lesen und Jura-Soyfer-Abende besuchen, gemeinsam mit einem jungen jüdischen Kommunisten, der bald spurlos verschwinden wird. „Jetzt sind wir unter uns“, erklärt ihr Deutschlehrer triumphierend, nachdem auf vielen Schaufenstern „Ist in Dachau“ steht. Emilia wird am Ende nicht studieren, sondern in einer Fabrik arbeiten und eine Tochter bekommen, von einem Mann, der für sie „nur ein Stück Fleisch“ ist, und wird irgendwann die Hoffnung aufgeben, Georg je wiederzusehen.

Geschichte wird in diesem bemerkenswerten Stück Literatur zu einem dekonstruktivistischen Labyrinth ohne Hoffnung oder Trost, aber voller Gespenster. Einem kubistischen Raum der Gleichzeitigkeit, in dem allein der Alltag, die gelebte Gegenwart der Individuen der „großen“ Geschichte Widerstand leistet: Ganz nah an seine Protagonisten begibt sich Stangl, lässt den Leser jede ihrer Körper- oder Geruchssensationen wahrnehmen – „der Geruch nach Essig, nach Karfiol, nach Urin, der durch die Wohnungstür dringt“. In virtuos verschlungenen, konsequent in Präsens und Futur gehaltenen Sätzen erzählt der gebürtige Wiener zwei Lebensschicksale in verschiedenen und doch im Detail verblüffend ähnlichen Epochen. Sätze, die man zweimal lesen sollte, um ihre Vielschichtigkeit, ihren Anspielungsreichtum ganz aufnehmen zu können.

Stangl, Jahrgang 1966, der sein Philosophiestudium mit einer Arbeit über poststrukturalistische Literaturtheorie abschloss, gehört zu jener zu allen Zeiten seltenen Autorenspezies, denen ästhetische Kompromisslosigkeit vor Verkäuflichkeit geht. Einer wie Stangl, der es sich und dem Leser schwer macht, wird vom Literaturbetrieb gern mit Preisen überhäuft – für sein Debüt „Der einzige Ort“ (2004) erhielt er den aspekte-Preis; für einen Auszug aus „Was kommt“ in Klagenfurt den Telekom-Preis – und dafür vom Publikum meist ignoriert. Man möchte ihm wünschen, es wäre umgekehrt.

Titelbild

Thomas Stangl: Was kommt. Roman.
Literaturverlag Droschl, Graz 2009.
183 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207528

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