Dorffest mit Hindernissen

Anmerkungen zu Stephan Thomes „Grenzgang“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie der Titel suggeriert, geht es in dem Roman von Stephan Thome um „Grenzgänge“. Dabei ist auf der vordergründigen Handlungsebene der „Grenzgang“ ein dreitägiges Dorffest, das alle sieben Jahre im Heimatdorf der Protagonisten des Romans veranstaltet wird. Die Attribute, die solche Feiern auf dem Land haben, wird jeder kennen, der dort aufgewachsen ist oder sich ab und an dort aufhält. Kommt man aus der Stadt, entbergen diese Veranstaltungen alle Vorurteile, die man mit der bierseeligen Tumbheit eines Dorffestes verbindet: Es ist eine Mischung aus organisiertem Feiern, zügellosem Exzess und bräsigem, hirntotem Volksfest.

Eben diese Komponenten werden auch für die Charakterisierung der „Grenzgang“-Feste in Thomes Roman verwendet – allerdings durchaus sensibel, nicht diffamierend und mit der nötigen Zurückhaltung, um alle handelnden Personen in keiner Weise bloß zu stellen. Daher kommen beim Leser auch keine Aversionen gegen die Protagonisten und den ländlichen Handlungsort auf. Dies ist besonders verwunderlich, weil bei den beiden Protagonisten der Heimatort, in dem sie in der Gegenwart des Jahres 2006 leben, mit dem Scheitern in der „Fremde“ und der Rückkehr in diesen Ort verbunden ist. Bei Kerstin, die auf dem „Grenzgang“ 1992 ihren Mann getroffen hat, von dem sie mittlerweile geschieden ist und die in einer indifferenten Haltung zu ihrer Umwelt existiert, ist es die gescheiterte Beziehung. Bei Thomas Weidmann ist es eine gescheiterte Karriere als Historiker, die ihn in den Schuldienst geführt hat, wo er frustriert seiner wissenschaftlichen Laufbahn nachtrauert.

Dabei gelingt es Thome, mit wenigen Worten und Handlungen den subtilen inneren Zustand der Protagonisten einzufangen, ohne das Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung der Charaktere zu verlieren und gleichzeitig den Vorschein auf eine vermeintlich ausweglose Situation zu suggerieren. Diese temporäre Verzweiflung treibt die Protagonisten an, ihre Situation zu verändern. An ebendiesem Punkt orientieren sie ihr Handeln – und damit an einem Gegenmodel zum „Grenzgang“. Dieser wird durch andere Handlungsmodelle bestimmt: „Man musste sich auf seine Instinkte verlassen, aber dann kam die Dunkelheit dazu und der Alkohol, und schon lief man irgendwo am Flussufer in ein junges Ding, das sich auch gerade auf seine Instinkte verließ.“ Bei der weiblichen Hauptfigur Kerstin wird diese Veränderung durch einen Aufenthalt ihrer pflegebedürftigen und demenzkranken Mutter im Krankenhaus ermöglicht. Sie hat etwas persönlichen Freiraum und merkt, dass sich etwas verändern muss. „Sie wird Weidmann gegenübertreten, heute noch. Notfalls bei ihm zu Hause. Und sie wird dabei das Kleid tragen, das neben ihr auf dem Beifahrersitz liegt.“

Thomas Weidmann ist ein frustrierter Mann um die Vierzig, der sich nach beruflichem und privatem Versagen, mit seiner Situation abzufinden versucht. Ebenso wie die weibliche Protagonistin hat er das Gefühl, dass es trotz mehrmaligen Scheitern möglich sein sollte, das Leben mit ein wenig Sinn und Glück zu füllen: „Eine Kapitulation aus Trotz und ein zähes Festhalten an der Niederlage. Je länger er so lebt, desto wahrer erscheint ihm der Satz, dass man sich im Verlauf seines Lebens nur ein Mal verwandeln kann. Danach kann man sich nur noch verstellen.“

Thome schafft es, diese alltäglichen Situationen in ein stimmiges und persönliches Panorama zu wandeln, die Figuren mit hohem Identifikationspotential für den Leser zu skizzieren und aus unspektakulären Alltagsproblemen einen spektakulären und gleichzeitig stillen Roman zu machen. Beide Protagonisten definieren sich in einer widersprüchlichen Wirklichkeit, die vom Individuum Initiative und Handlungsfähigkeit verlangt. Diesen Konflikt unaufgeregt und sensibel zu gestalten, ist der bleibende Verdienst des Romans.

Titelbild

Stephan Thome: Grenzgang. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
455 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421161

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