Erst der „Neue Mensch“ übt Gerechtigkeit

Über Elisabeth Jüttens Dissertation zu Jakob Wassermanns Gerechtigkeitsvorstellung

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gerechtigkeit ist Jakob Wassermanns Lebensthema. Das hat er selbst mehrfach betont und niemand zweifelt daran. Es gibt dementsprechend bereits eine reiche Forschungsliteratur zu Recht und Gerechtigkeit in Wassermanns Werk. Allerdings – und hier setzt Elisabeth Jütten in ihrer Aachener Dissertation kritisch an – begnügen sich die bisherigen Studien in der Regel mit der Paraphrasierung und Diskussion der im Werk Wassermanns dargestellten Gerechtigkeitsprobleme, die vor dem Hintergrund jeweils eigener oder fremder Definitionen erörtert werden, „anhand derer die Aussagen oder Darstellungen Wassermanns gemessen, interpretiert und vielfach leider auch bewertet werden“.

Demgegenüber situiert Jütten Wassermanns Gerechtigkeitsauffassung epochen- und philosophiegeschichtlich. Es sind die lebensphilosophischen Gerechtigkeitstheorien der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Jean-Marie Guyau, Friedrich Nietzsche und Henri Bergson) und ihrer Vorläufer seit Jacques Rousseau und Arthur Schopenhauer, die als Wassermanns „Kontext“ namhaft gemacht werden, unabhängig davon, ob dieser sie auch zur Kenntnis genommen hat. „Denn selbst wenn eine Lektüre nachweisbar oder sicher anzunehmen ist, erhält sie ihre Relevanz erst durch ihre konkrete Funktion im Text“, heißt es. Unter solchen Umständen wären Lektürenachweise jedenfalls nicht schädlich.

Der „Kontext“ wird verhältnismäßig ausführlich ausgebreitet und ausgeweitet auf „kulturelle und religiöse Diskurse der Jahrhundertwende“ mit dem Ergebnis einer allseitigen Proklamation des „Neuen Menschen“, einer „Hohlform“, die sich als aufnahmebereit erwies für die unterschiedlichsten weltanschaulichen Beglückungstheorien und -utopien bis hin zu „nationalsozialistischen Erlösungsszenarien“. Den Weg zu einem „Neuen Menschen“ geht Christian Wahnschaffe nach dem Vorbild der Heiligenlegende beziehungsweise der Heilsgeschichte, wobei franziskanische, buddhistische, christliche und jüdische Vorstellungen vom „Neuen Menschen“ zusammenfließen. In welchem Ausmaß die in „Christian Wahnschaffe“ zutage tretende Auffassung vom Menschen und von der Gerechtigkeit epochenspezifisch sind, geht aus einem knappen Exkurs über „Das Thema der Gerechtigkeit bei Dostojewski“ hervor, in dem eine Fülle von Analogien zwischen den Werken beider Dichter namhaft gemacht wird. Beide stimmen auch in der Überzeugung überein, dass der unaufhebbaren gesellschaftlichen Ungerechtigkeit mit institutionellen Gerechtigkeitsgrundsätzen nicht beizukommen sei. So erklärt sich die konkrete Justizkritik bei Wassermann.

Erst die Aufhebung des Mangels an Erkenntnis und Selbstvollendung bis hin zur unio mystica bringt eine Ethik zustande, die mit dem „Neuen Menschen“ auch eine neue Gerechtigkeitsauffassung auszeichnet. Sie ist gekennzeichnet durch „die Fokussierung auf das Individuum sowie die Relevanz, die der individuellen Wandlung und personalen Selbstreform für die individuelle und kollektive ethische Vervollkommnung beigemessen wird“, mithin durch das „Modell persönlicher, individuell jüdischer Authentizität“. Das wird eingehend in dem Kapitel „Gerechtigkeit im modernen Judentum“ dargelegt.

Die anschließenden Analysen der Romane „Laudin und die Seinen“, „Der Fall Maurizius“, und „Caspar Hauser“ bringen in konzentrierter Form gleichsam die Anwendung der vorangestellten Erörterungen. Der Ertrag ist ergiebig: Vor dem Hintergrund der historischen und zeitgeschichtlichen Gerechtigkeitsdiskurse werden die Romane auf einleuchtende Weise neu lesbar, weil die Konstellation der Figuren und der Gang der Handlungen als wohlerwogene Elemente eines begründeten Gerechtigkeitskonzepts Wassermanns erscheinen. Dieses Konzept ist eklektisch (das Wort wird kaum mit einem negativen Beigeschmack verwendet): Es verbindet auf epochenspezifische Weise Vorstellungen vom Selbstverständnis und der Bestimmung des Menschen sowie von der Gerechtigkeit miteinander, die einerseits bis in die Antike zurückreichen, andererseits und vorzüglich aber Gerechtigkeitstheorien der Jahrhundertwende aufgreifen. Die gründliche Studie macht Lust, auch die nicht berücksichtigten Erzählungen Wassermanns (etwa „Adam Urbas“) mit dem hier entwickelten Instrumentarium und Hintergrundwissen neu in den Blick zu nehmen.

Titelbild

Elisabeth Jütten: Diskurse über Gerechtigkeit im Werk Jakob Wassermanns.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007.
334 Seiten, 86,00 EUR.
ISBN-13: 9783484651661

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