Zuflucht in der Schweiz

Jüdische Überlebende des Holocaust in Zeitzeugenberichten

Von Barbara Mahlmann-BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Mahlmann-Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Interviews mit elf jüdischen Zeitzeugen, die nach 1945 in die Schweiz gelangten und heute noch dort leben, geben erstmals Auskunft über ihre meist spannungsreichen Beziehungen zu ihrem Aufnahmeland, die von ihrer individuellen Überlebensgeschichte und der beruflichen Integration ebenso wie vom Verhalten einzelner Schweizer geprägt sind. Vier der Interviewten sind Frauen, drei der Überlebenden wurden zwischen 1913 und 1916 geboren, vier zwischen 1924 und 1929 und weitere vier zwischen 1930 und 1935. Sieben von ihnen stammen aus Osteuropa (dem damaligen Polen, der Slowakei, Siebenbürgen und Ungarn).

Die Herausgeber fassen in der Einleitung die Daten zur Geschichte der Schweiz von 1933 bis 1945 zusammen, die zum Verständnis der Überlebensbedingungen für jüdische Flüchtlinge wichtig sind. Die Anmerkungen in der Einleitung verweisen auf die Standardliteratur und jüngste Untersuchungen. Als Hilfe für deutsche Leser ist die Zeittafel in Alfred Häslers (von den Herausgebern zitierter) Darstellung „Das Boot ist voll“ heranzuziehen. Ein eigenes Kapitel über den Beitrag von Schweizer Behörden zur Vernichtung der europäischen Juden in Raul Hilbergs faktenreicher Darstellung fehlt, aufschlussreich sind darin jedoch einzelne Angaben zur Kollaboration und zu Protestaktionen.

Zwischen 1933 und 1937 flohen ca. 130.000 Juden aus Nazi-Deutschland. Seit April 1933 wurde ihnen in der Schweiz der Status politischer Flüchtlinge abgesprochen. Die Einführung der Visumspflicht für österreichische Pass-Inhaber im April 1938 und des J-Stempels im Pass machten es ihnen unmöglich, in der Schweiz Asyl zu finden. Rund 30.000 flüchtige Juden wurden zwischen 1939 und 1945 an der Schweizer Grenze abgewiesen und den deutschen Behörden übergeben. Entsprechende Anweisungen der eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements gab es seit 1939, nur im August 1942 war die Grenze für einige Wochen tageweise für Zivilflüchtlinge offen. Zu ergänzen für deutsche Leser wäre, dass seit 12. Juli 1944 Asyl suchende Juden dann wieder den Status politischer Flüchtlinge erhielten. Während des Krieges fanden etwa 300.000 Verfolgte vorübergehend Zuflucht in der Schweiz, darunter knapp 20.000 Jüdinnen und Juden und 1.800 „Halbjuden“. Bei Kriegsende zählte man dort rund 150.000 Flüchtlinge; von ihnen blieben nur 1.600 jüdische Flüchtlinge (viele von ihnen waren Kinder) langfristig in der Schweiz. Hinzu kamen jüdische Kinder und Jugendliche, die aus Konzentrationslagern gerettet und vorübergehend in die Schweiz zur Erholung geschickt worden waren.

Die Interviews wurden in der zweiten Jahreshälfte 1997 geführt, als die Enthüllungen über Nazi-Raubgold auf Schweizer Konten und „nachrichtenlose Vermögen“ ermordeter jüdischer Familien in Schweizer Banken die Öffentlichkeit alarmierten und Schweizer Finanzfachleute und Politiker zu Stellungnahmen zwangen. Regelmäßig stellen die Interviewer die Frage, ob derartige Nachrichten, die erst auf Umwegen die Mitverantwortung von Schweizer Institutionen und die Bereicherung von Schweizer Bürgern offenbarten, das Urteil der Überlebenden über ihr „Gastland“ verändert hätten. In vielen Fällen verstärkten sie das latente Gefühl der Überlebenden, als Juden heute noch unerwünscht und nicht-akzeptiert zu sein und bestätigten die Entscheidung Einzelner, ihre jüdische Identität weiter zu verheimlichen.

Die Kunst der Befragung in Oral-History-Projekten besteht darin, Biographien Überlebender auch im Erzählstil und in der Art des Arrangements der Erinnerungen als unverwechselbare, individuelle Verarbeitungsformen weltgeschichtlicher Leidenserfahrungen zu präsentieren. Wie der unterschiedliche Stil, eigenwillige Akzentsetzungen und überraschende Abweichungen in den Antworten auf ähnliche Fragen zeigen, traten die Interviewer lediglich als Geburtshelfer von Überlebensgeschichten in Erscheinung, die ohne ein solches Interviewprojekt vielleicht nie ins erzählerische Bewußtsein gelangt, geschweige denn veröffentlicht worden wären. Originell ist die Idee, jede Lebensgeschichte mit einer persönlichen Beurteilung gleichsam wie mit einem Motto zu überschreiben: „Das einzige, was mir geblieben ist, ist das Denken.“ – „Dieses völlige Alleinsein – so bin ich durch die Welt gegondelt“ – „Die Welt muß wissen.“ – „Ich war immer Ausländerin, seit meiner Geburt.“ – „Wie wird man mit dieser Wut fertig?“ – „Wenn der Messias käme, der würde uns hier nie finden“ etc.

Jedes Interview beginnt mit einer10 bis 20-zeiligen Einleitung, welche das heutige Verhältnis der interviewten Person zu ihrer Schweizer Lebenswelt durch eine pointierte Charakterisierung der Wohnsituation beleuchtet. Dann folgt die Kindheitsgeschichte in Ich-Form. Nachfragen betreffen die Religiosität im Elternhaus und in der Gegenwart, die ersten Anzeichen antisemitischer Ausgrenzungen und das Verhältnis zu den ebenso gefährdeten Geschwistern. Kommentare in belehrend-besserwisserischem Ton kommen nicht vor, häufiger schon Bemerkungen wie „Ich kann das niemandem erzählen, das glaubt mir ja keiner“, ebenso auch Erklärungen, wie schwer es sei, traumatische Erfahrungen angemessen zu verbalisieren und mit ihnen zu leben. In kurzen Sätzen werden meistens vor allem die „Fakten“ erzählt. Die älteren Jahrgänge erzählen betont sachlich und heben ihr politisches Engagement und ihre Unabhängigkeit hervor. Diejenigen, die Anfang der vierziger Jahre noch Kinder waren, bemühen sich stärker, damalige Stimmungen wiederzugeben. Die Brücken zu ihrem kindlichen Ich, das durch den Verlust von Eltern und Geschwistern traumatisiert wurde, sind jedoch sehr fragil. „Ich, ein anderer“ (Imre Kertész) könnten Leser Judith Meyer-Glücks (geb. 1935) Erinnerungen an ihre Lagerzeit nach der Deportation ihrer Eltern kommentieren. In der Schweiz fühlen sich die meisten von ihnen wie Fremde. Die Diskretion der Schweizer Nachbarn und Kollegen hilft ihnen, ihre Traumata unter Verschluss zu halten und nur im Schutz der jüdischen Gemeinde oder jüdischer Freunde ihren privaten Interessen nachzugehen. Auf die in einer öffentlichen Badeanstalt leicht erkennbare Auschwitz-Nummer eines Interviewten, die er wie eine Aufforderung zum Hinsehen und Nachfragen empfindet, reagierten nur Ausländer. Eine öffentliche Diskussion, die es den Überlebenden erlaube, ihre Erfahrungen einzubringen, gebe es erst in den letzten Jahren, und in manchem weckt sie eher wieder alte Ängste. Der Blick der besonders empfindlichen Heimatlosen auf die gegenwärtige Schweiz eröffnet den Lesern den Zugang zu dem, was sie im alltäglichen Umgang sorgsam verschließen. Weibliche Überlebende geben sich im Gespräch forscher, selbstbewußter, spröder, streitlustiger und risikofreudiger als die Männer. Diese haben vermutlich von kleinauf gelernt, strikt zwischen Innen und Außen zu unterscheiden und in wechselnden Rollen zu funktionieren. Sie präsentieren sich daher den Lesern reizbarer und schreckhafter, verträumt und meist ganz rückwärtsgewandt. Diejenigen, die etwas vorweisen können, woran deutlich wird, wie sehr sie ihre Leidenserfahrungen durchgearbeitet haben (bei Roland Kirilovsky Bücher und Aufzeichnungen, bei Fischl Rabinovicz Bilder), tun sich im Gespräch leichter als andere wenige, denen die Interviewsituation vermutlich erstmals die Chance eröffnet, sorgfältig unter Verschluss gehaltene Traumata zu reflektieren.

Wie eine Spionagegeschichte liest sich die Lebensgeschichte von Roland Kirilovsky aus Siebenbürgen (geb. 1916). Der polyglotte, im antifaschistischen Widerstand engagierte und mit dem Zionismus sympathisierende Chemiestudent in Paris kam 1934 ins Fremdenlager nach Vernet, wurde 1943 mit einer Gruppe junger arbeitsfähiger Häftlinge nach Deutschland deportiert, befand sich dort als Zwangsarbeiter in der Nähe von München, bei Ingolstadt und im Ruhrgebiet in ständiger Lebensgefahr, konnte jedoch seine jüdische Identität verbergen, stellte sich nach der Befreiung den Amerikanern zur Verfügung, geriet jedoch 1946 in Berlin in die Hände der russischen Spionageabwehrzentrale, kam ein Jahrzehnt in sowjetische Gefangenschaft, wurde 1956 nach Westdeutschland abgeschoben, arbeitete bis 1959 in München als Übersetzer, siedelte sich 1961 in der Schweiz an und erhielt nach unzähligen Schwierigkeiten mit der Fremdenpolizei endlich 1980 die Aufenthaltserlaubnis. Daher wahrte er sich notgedrungen seine „Außensicht“ auf die Schweiz und urteilt ohne emotionale Anteilnahme, dass die Schweiz kollaboriert habe, weil sie keine andere Wahl gehabt habe. Die multikulturelle Herkunft aus Siebenbürgen und Sigeth, die durch zahlreiche Sprachstudien erworbene Vielsprachigkeit und Liebe zum Sprachen- und Kulturvergleich ermöglichen Kirilovsky ein Leben in Distanz unter größtmöglicher linguistischer Assimilation.

Im Gegensatz zu Kirilovsky betrachtet die 1913 in Paris geborene Reine Seidlitz die Schweiz als ihre Heimat. Denn mit Zürich und Genf verbindet sie die Erinnerung an eine behütete, wenn auch von sozialer Not und Ungewißheit gekennzeichnete Kindheit. Die Tochter eines seit 1914 in der Schweiz ansässigen jüdischen Kleinhändlers, dem wenige Jahre später die Arbeitserlaubnis entzogen wurde und der deswegen mit seiner Frau nach Paris zog, besuchte vor dem Krieg eine Handelsschule und arbeitete während des Krieges in verschiedenen Kinderheimen. Wiederholte Versuche, die sozial deklassierten Eltern aus Frankreich in die Schweiz einzuschleusen, scheiterten. Die Ablehnung der Fremdenpolizei liest Frau Seidlitz den Interviewern vor. Dieses Papier war die Voraussetzung für die Deportation nach Auschwitz, wo die alten Leute „Gott sei Dank“ nicht lange mehr leiden mußten. Unvorstellbar sind die Schikanen der Schweizer Behörden, die die Einreise der Eltern verhinderten, unermesslich das Gefühl der Ohnmacht, Wut, Trauer und die Selbstvorwürfe der Tochter, die sich selbst durch die Arbeit mit jüdischen Waisenkindern durchbrachte und ihre damalige Hilflosigkeit durch ihre Sozialarbeit, oft in leitender Stellung mit wichtigen organisatorischen Aufbauarbeiten, kompensierte. Die Ehe mit einem polnischen Juden ging in die Brüche, weil sie – die Tochter von nach Auschwitz deportierten Juden – sich von seiner Familie in Israel als Schweizer „Jecke“ diffamiert fühlte. Während sie früher gegen die Geschlechtertrennung in der Synagoge protestiert habe, sei sie gegenwärtig in der Jüdischen Liberalen Gemeinde in Zürich gut integriert und freue sich, einiges über ihre jüdischen Wurzeln zu erfahren. Bis heute provozieren antisemitische Äußerungen, die in der Schweiz verbreitet seien, Angst und Abwehrreaktionen.

Die letzten drei Interviewten, Eduard Kornfeld (geb. 1929), Otto Klein (geb. 1927) und Rywen T. alias B-8326 (geb. 1926), geben in ruhig-sachlichem Ton Grenzerfahrungen über ihre Leidenszeit in Dachau, Auschwitz-Birkenau und Buchenwald preis, die ihr ganzes späteres Leben überschatten. Der erste gesteht, sich jahrelang mit Racheplänen an den Deutschen für die Ermordung seiner Familie getragen zu haben und reagiert besonders empört auf die Mystifikationspolitik der Schweizer Banken; der zweite ist sich dessen bewusst, dass er der einzige Zwilling in Westeuropa ist, der Dr. Mengeles Experimente überlebt hat und deswegen mit seiner Sicht auf diesen leicht Missverständnisse hervorruft. Die Erzählweise des Dritten über die Leidenszeit in Auschwitz ist so teilnahmslos, als spräche er über einen anderen; Passivformen und unpersönliche Ausdrücke überwiegen, das Überleben verdanke er einem Zufall, von Glück zu reden, wäre zu viel. Die Worte versiegen ihm, während die Erinnerung an Unfassbares hochkommt. Ganze Passagen über sein Weiterleben nach 1945 habe er aus dem Manuskript gestrichen, da allein die Erinnerung an die Ermordeten es wert seien, aufgezeichnet zu werden.

Die wenigen, durchweg behutsamen Fragen der Interviewer zeugen von Sensibilität. Vor allem Eva Lezzi aus dem Dreierteam hat ihre professionelle Erfahrung aus dem Berlin-Brandenburgischen Interviewprojekt „Archiv der Erinnerung“ eingebracht, das erstmals 80 Gespräche mit jüdischen Überlebenden in Deutschland aufgezeichnet und dem „Fortunoff Video Archive“ an der Yale University einverleibt hat. Ausschlaggebend für die schriftliche Gestalt der Interviews, die teils in Schweizerdeutsch, teils auf Hochdeutsch geführt wurden, war die Rücksicht auf die Wünsche der Interviewten. Ihre Skrupel bei der nachträglichen Durchsicht der Interviewtranskriptionen seien groß gewesen, durch ihre Antworten möglicherweise Verwandte, Nachbarn und Freunde zu belasten. In strittigen Fällen setzten, wie Eva Lezzi mir mitteilte, die Interviewten die glattere, harmonischere, versöhnlichere Version ihrer Geschichte durch und hätten ursprünglich eindeutig negative Urteile zurückgenommen.

Titelbild

Imre Kertész: Ich - ein anderer. Übersetzt von Ilma Rakusa.
Übersetzt aus dem ## von ##.
Rowohlt Verlag, Berlin 1998.
128 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 387134334X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Kein Bild

Raphael Gross / Eva Lezzi / Marc Richtel: Leben mit dem Holocaust. Gespräche mit Überlebenden in der Schweiz.
Pendo Verlag, Zürich 1999.
280 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3858423467

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch