Bernstein und Bushaltestelle

Über Claire Beyers neuen Roman „Rohlinge“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann bricht mit seinem Jungen von Lettland nach Deutschland auf, weil er von seiner Mutter, die deutsche Vorfahren hat, gesagt bekam, er solle im Westen sein Glück suchen. Doch der Bernsteinsammler und Goldschmied baut von Anfang an eine Lüge auf, lässt seinen Sohn in Briefen in die Heimat nur über positive Ereignisse berichten und verschweigt seine Tätigkeit in einer Kühlhalle. Er kümmert sich nicht sehr um den elfjährigen Donald, der Dank der deutschen Vorfahren zwar mit der Sprache einigermaßen zurechtkommt und die Schule leidlich durchläuft, doch sein Lehrer, ein für seine pädagogische Ausdauer bekannter Mann, schickt ihn zu Karin Beerwald, sie solle ihm Nachhilfe in Deutsch geben.

Die unverheiratete Mittvierzigerin sträubt sich zunächst, kann aber dem ernsthaften Beharren des Jungen nicht lange widerstehen. Und so findet Donald, der in der Schule keine Freunde hat, eher verspottet und ausgegrenzt wird, einen Menschen, der ebenfalls wenig Kontakte hat, da Karin alleine lebt. Sie hatte einen Liebhaber, doch als der geheiratet hat, endete der Kontakt. Und so lebt sie nach der Maxime Marc Aurels, die dem Buch als Motto vorangestellt ist: „Die Menschen sind füreinander da. Also belehre oder dulde sie.“ Karin unterrichtet Donald, diktiert ihm Texte über die Kelten und stellt ihm einen Besuch im Keltenmuseum in Aussicht. Es entsteht eine Beziehung zwischen Beiden, die auch ins Private hineinreicht, beispielsweise wenn sie ihn zu ihrem dementen Vater ins Heim mitnimmt und der Junge ganz unerwartet eine Nähe zu dem alten Mann herstellen kann. Doch die Beziehung zur Lehrerin kann dem Elfjährigen nicht alles ersetzen, weswegen er, der oft alleine ist, eine verlassen wirkende Gartenhütte zu seinem geheimen Rückzugsort macht. Dass er dort eines Tages vom Besitzer überrascht wird, der für seine Flucht vor der Polizei den Jungen zu einer Art Komplize macht, ist eine weitere eingebaute Episode in diesem Roman.

Claire Beyer versteht es, viele aktuelle Themen miteinander zu verknüpfen, ohne jemals leichtfertig mit diesen umzugehen. Sprachlich souverän, verschränkt sie Naturbilder und scheinbare Idyllen mit harter Realität, Alkoholexzessen und jugendlichem Bandentum. „Rohlinge“ ist ein gegenwärtiger Roman, dessen Themenvielfalt und genaue Personenzeichnung eine breite Leserschaft ansprechen kann. Das offene Ende ist konsequent und lässt viel Raum zum Weiterdenken und Nachklingenlassen. Neo Rauch hat in diesem Herbst die Umschläge der Frankfurter Verlagsanstalt gestaltet, im Prinzip eine gute Idee, zumal auch der Umschlag zum vorliegenden Buch passt. Allerdings hätte man sich im Verlag gegen die übertriebene Fraktur entscheiden sollen, die nur für den Titel verwendet wurde, nicht für Autor, Genre und Verlag – sehr unpassend und störend.

Titelbild

Claire Beyer: Rohlinge. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009.
157 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001636

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